„Alles außer gewöhnlich“

Autismus-Darstellungen in Spielfilm und Serie

Werner C. Barg

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Dr. Werner C. Barg ist Autor, Produzent und Dramaturg sowie Honorarprofessor im Bereich Medienwissenschaft der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) vertritt er die Professur „Audiovisuelle Medien“.

In den folgenden Ausführungen geht es um die dramaturgische und ästhetische Darstellung von Figuren in Filmerzählungen, die Menschen im Autismus-Spektrum verkörpern. Der Beitrag ist der Auftakt zu einer Artikelreihe, in der der Charakterisierung außergewöhnlicher Figuren in Spielfilmen und Serien nachgegangen werden soll.

Online seit 22.02.2021: https://mediendiskurs.online/beitrag/alles-ausser-gewoehnlich/

 

 


Autismus-Darstellung als Subgenre des Filmdramas

Im Spielfilm sind eigenwillige Charaktere zumeist interessanter als gewöhnliche Figuren. Das Außergewöhnliche birgt dramatisches Potenzial, bringt Konflikt und manchmal auch Subversives in einen Film hinein. Hierdurch wird Spannung erzeugt und die Handlung vorangetrieben. Daher ist es nicht verwunderlich, dass es mittlerweile zahlreiche Filme gibt, in denen Menschen im Autismus-Spektrum, speziell auch des Asperger-Syndroms bzw. des High-Functioning Autism1, in zentralen Rollen zu sehen sind (vgl. Arens-Wiebel 2018). Man kann zu Recht bezüglich der Darstellung des Autismus im Film von einem Subgenre des Filmdramas sprechen. Allerdings zeigen bereits die beiden Schlüsselfilme dieses Subgenres: Rain Man (1988) und Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa (1993), dass die von Dustin Hoffman bzw. Leonardo DiCaprio grandios verkörperten autistischen Figuren aus dramaturgischer Sicht eher in Nebenrollen agieren, wenngleich die Darstellung ihres Andersseins nicht geringen Raum in der Filmerzählung einnimmt.
 

Rain Man

Raymond (Dustin Hoffman) in Barry Levinsons Film Rain Man lebt wohlbehütet in dem Heim Walbrook und folgt seit jeher bestimmten routinierten Tagesabläufen, die eng mit spezifischen Sendungen im Fernsehprogramm getaktet sind. Er hat bestimmte Rituale, greift markante Sätze aus Büchern oder aus dem Fernseher auf, die er wie Slogans immer wiederholt. Raymond zeigt spezifische Anzeichen von Autismus:

Autismus ist eine neurologisch bedingte Wesensart – keine Krankheit. Das heißt, die Gehirne autistischer Menschen unterscheiden sich von denen nicht-autistischer Menschen. Dadurch haben Autisten eine andere Wahrnehmungsverarbeitung, andere Denk- und Lernstile, eine andere Art der sozialen Interaktion und Kommunikation und einige Verhaltensweisen, die nicht-autistischen Menschen nicht unmittelbar verständlich sind“ (Autismus-Kultur o.J.).

Dieses Unverständnis gilt in Rain Man besonders für die Hauptfigur Charlie (Tom Cruise), ein smarter, aber großmäuliger und hochverschuldeter Autoverkäufer. Nach dem Tod des Vaters wird ihm mitgeteilt, dass sein Dad das Familienvermögen in Millionenhöhe nicht ihm, sondern der Walbrook-Einrichtung vererbt hat. Mit Freundin Susanna (Valeria Golino) taucht er dort auf. Er erfährt, dass Heimleiter Dr. Bruner (Gerald R. Molen) das Vermögen für Raymond verwaltet und ihm so ein wohlgeordnetes Leben garantieren kann. Charlie, der sich um sein Erbe betrogen fühlt, fällt aus allen Wolken, als er von Raymonds Existenz erfährt. Er droht Dr. Bruner mit einem Prozess. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, entführt er Raymond aus dem Heim.
 

Trailer: Rain Man (1988)



Charlie nimmt auf Raymonds Eigenarten wenig Rücksicht, will nur seinen egoistischen Plan durchsetzen. Als Susanna ihn daraufhin verlässt, beginnt er sich langsam auf die außergewöhnlichen Verhaltensweisen seines Bruders einzulassen. Schließlich begreift er, dass die Figur des „Rain Man“, mit der er als Kind immer gespielt und die er später als Erwachsener in seiner Erinnerung stets als kindliche Einbildung abgetan hatte, tatsächlich existiert: Es war Raymond, den der kleine Charlie „Rain Man“ nannte. Die Eltern gaben den „Rain Man“ ins Heim, da sie befürchteten, Raymond könnte Charlie versehentlich etwas antun.

Die autistische Figur in Barry Levinsons Film ist in erster Linie Projektionsfläche für die Charakterentwicklung der Hauptfigur Charlie hin zu einer Person, die Gefühle zulässt und sich humaner und verständnisvoller gegenüber seinen Mitmenschen, auch gegenüber seiner Lebensgefährtin Susanna verhält. Sie kehrt zu ihm zurück, und mithilfe von Raymonds Sonderbegabung kann Charlie auch seine finanziellen Probleme lösen: Mit Raymonds phänomenalem Zahlengedächtnis kann Charlie die Bank eines Spielcasinos in Las Vegas sprengen und die Schulden an seine Gläubiger zurückzahlen.
 

Gilbert Grape

This movie lets people see the different types of autism. The types of autism that are usually shown in the media are children who are quiet, reserved and do not talk to anyone, but Arnie was the complete opposite“ (Lack et al. o.J.).

Im Unterschied zum frühkindlichen Autismus, den Dustin Hoffman in Rain Man zeigt und dessen Asperger-Syndrom sich dadurch auszeichnet, dass die Person seit der Kindheit sehr zurückgezogen in ihrer eigenen Welt der Routine und Rituale lebt, dabei aber geistig voll funktionsfähig ist, zeigt Regisseur Lasse Hallström in Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa (1993) in der Verkörperung des jungen Leonardo DiCaprio einen anderen Typus des „gelehrten Idioten“, wie Autisten – so Dr. Bruner in Rain Man – in früheren Epochen genannt wurden.

Arnie ist laut und wild, ein hypermotorischer Jugendlicher, ein „Systemsprenger“, der die Familie Grape mit seinen verrückten Ideen und Spielen ganz schön durcheinanderwirbelt. Besonders sein Drang, den nahen Wasserturm des fiktiven Städtchens in Iowa immer aufs Neue besteigen zu wollen, machen Polizei und Ordnungskräften, aber auch Arnies größerem Bruder Gilbert (Johnny Depp) zu schaffen. Durch gutes Zureden schafft es Gilbert meistens seinen Bruder vom hohen Turm zu holen. Aber die Gefahr, dass der jüngere Bruder doch irgendwann einmal abstürzt, ist immer gegeben.  
 

Trailer: Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa (1993)



Obwohl Arnie durch seine Aktionen klar die markanteste Figur in Hallströms Filmerzählung ist, stehen doch in der Handlung letztlich die Merkmale des Autismus-Spektrums nicht im Mittelpunkt. Sie schaffen vielmehr dramatische Knoten- und Höhepunkte, an denen sich Hauptfigur Gilbert Grape beweisen muss. Ein guter Mensch möchte er sein, sagt Gilbert, und ist deshalb zum Beschützer und Versorger der Grape-Familie geworden, nachdem Vater Grape sich im Keller des Hauses erhängt hatte. Schwester Amy (Laura Harrington) hilft ihm, den Alltag besonders mit dem quirligen Arnie, aber auch mit der schwer übergewichtigen Mutter (Darlene Cates) zu bewältigen, während die jüngere Schwester Ellen (Mary Kate Schellhardt) vor sich hin pubertiert und sich mit Arnies wilden Aktionen total überfordert sieht.

Als die Camperin Betty (Juliette Lewis) auftaucht und die beiden sich auch durch Arnies Hilfe näher kennenlernen und schließlich ineinander verlieben, beginnt Gilberts eingefahrener Alltag zu bröckeln. Er, der zuvor stets nur für andere da war, denkt über sein bisheriges Leben nach und will es ändern – mit gravierenden Folgen für die Grape-Familie.
 

Unverständliche Gefühle

Ausgehend von den beiden zuvor in den Schlüsselfilmen des Subgenres skizzierten Rollenmodellen hat sich die Autismus-Darstellung im Spielfilm und auch in der TV-Serie bis in die Gegenwart weiter ausdifferenziert, wobei besonders die Tatsache das Interesse der Filmemacher weckte, dass es Menschen im Spektrum des High-Functioning Autism schwerfällt, Gefühle zu zeigen, zu erwidern oder die emotionale Wirkung ihres Auftretens bei ihren Gesprächspartnern einschätzen zu können (vgl. Autismus-Kultur o.J.).

Zugleich rückten im Spielfilm seit der Jahrtausendwende Menschen mit Asperger-Syndrom stärker als Hauptfiguren in den Mittelpunkt der Erzählungen, das heißt, die Geschichten werden aus ihrer Perspektive erzählt. Ihre Eigenarten sind nicht nur – wie in Levinsons und Hallströms Filmen – dramaturgische „Katalysatoren“ für die Entwicklung eines anderen Hauptcharakters, sondern sind den autistischen Figuren selbst Anlass, die Welt um sie herum besser verstehen zu können.

In der dramatischen Komödie Im Weltraum gibt es keine Gefühle (2010) des schwedischen Regisseurs Andreas Öhman leidet der 18-jährige Simon (Bill Skarsgørd) unter der schweren Kommunikations- und Beziehungsstörung. Mit der Welt, die seine Eltern „normal“ nennen, kommt er nicht zurecht. Wie Hoffmans Raymond-Figur folgt er bestimmten Routinen und Ritualen; wie DiCaprios Arnie-Figur folgt er der fixen Idee, sich an einen Ort flüchten zu wollen, allerdings nicht auf einen Turm, sondern in eine Waschtonne, die er in seiner Vorstellung für eine Weltraumkapsel hält. Hier fühlt er sich sicher, denn im Weltraum gäbe es ja keine Gefühle. Als Simons älterer Bruder Sam (Martin Wallström) sich des Jungen annimmt, weil Simons Eltern völlig überlastet sind, erträgt dessen Freundin Frida (Sofie Hamilton) das Zusammenleben nur kurz. Sie verlässt Sam. Ganz rationalistisch mit Fragebogen und Statistik geht Simon nun daran, für Sam eine neue Freundin zu finden. Jennifer (Cecilia Forss) heißt die Auserwählte. Doch Sam wird lernen müssen, dass Liebesgefühle zwischen Menschen nicht automatisch entstehen, nur weil sie – wie Sam und Jennifer – unter rein rationalen Gesichtspunkten zusammenpassen müssten.
 

Ich-Perspektive

Auch in der Netflix-Serie Atypical (2017 – 2021) kämpft der 18‑jährige Sam Gardner (Keir Gilchrist) mit der Entwicklungsstörung und sucht nach Wegen, zwischenmenschliche Freundschafts- und Liebesbeziehungen aufzubauen, während seine Mutter Elsa (Jennifer Jason Leigh) in einer Selbsthilfegruppe um den richtigen Umgang mit ihrem Sohn ringt, so wie es zuvor schon die Familie um Adam Braverman (Peter Krause) in der Serie Parenthood (2010 – 2015) zur Unterstützung ihres autistischen Sohnes Max (Max Burkholder) getan hat. Im Gegensatz zu Parenthood, wo verschiedene Probleme der Elternschaft behandelt werden, stehen in Atypical die Alltagsprobleme der autistischen Hauptfigur klar im Mittelpunkt. Dies wird auch durch die Ich-Perspektive der Erzählung unterstrichen.
 

Trailer: Atypical (2017 – 2021)



In der Bollywood-Produktion My Name is Khan (2010) steht gleichfalls ein Ich-Erzähler mit Asperger-Syndrom im Mittelpunkt: Der indische Filmstar Shah Rukh Khan spielt Rizvan Khan, einen Moslem indischer Abstammung, der in den USA zuerst sein berufliches und privates Glück findet, dann aber nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ein politisch motiviertes Familiendrama durchleben muss. Es bringt ihn dazu, den US-Präsidenten treffen zu wollen, um ihm zu sagen: „Mein Name ist Khan und ich bin kein Terrorist!“ Beim Versuch, sich dem Präsidenten zu nähern, gerät der Asperger-Autist durch seine Verhaltensauffälligkeiten schnell ins Visier des FBI.

Regisseur Karan Johar nutzt mit den üblichen Mitteln massenwirksamer Emotionslenkung, mal anrührend, mal rührselig, die dramatische und tragische Charakterisierung seiner Autisten-Figur, um in der Reaktion auf sie das gewandelte politische Klima in den USA zu spiegeln, das nach den Terroranschlägen 2001 von Angst, Paranoia, Hass und Rassismus gegen Muslime geprägt war.
 

Sozialkritik

Eindringlich, doch ohne übersteigerte Emotion, schildert der Autor und Regisseur Nic Balthazar in Ben X (2007) den Leidensweg seiner autistischen Hauptfigur. In dem belgisch-niederländischen Film kämpft der Jugendliche Ben (Greg Timmermans) verzweifelt darum, seine Persönlichkeitsstörung überwinden zu können, um in der Schule und im Elternhaus möglichst „normal“ zu funktionieren. Dabei hilft ihm, dass er im Internet-Videospiel Archlord seine eigene Welt entwickeln kann: Hier schlüpft er in die Rolle seines Avatars Ben X, eine Heldenfigur, ein furchtloser Ritter ohne Fehl und Tadel, der stets alle Hindernisse überwindet, schon den hohen Level 80 erreicht und in der Heilerin Scarlite eine starke Verbündete gefunden hat. Im Gegensatz zur fiktiven Spielewelt ist Bens Alltagsleben eine grausame Tortur. Seine Mitschüler goutieren Bens Versuche, „normal“ zu sein, überhaupt nicht. Im Gegenteil: Sie meinen, aus seinem Anderssein die Rechtfertigung ableiten zu dürfen, Ben zu schikanieren, zu quälen, zu schlagen, schließlich sogar zu bestehlen und ihn durch ein Handyvideo auf übelste Weise zu kompromittieren und im Internet bloßzustellen.
 

Trailer: Ben X (2007)



Kompromisslos klagt Balthazar eine Welt ohne Mitleid an, in der Lebenshaltungen dominieren, die glauben, bestimmen zu dürfen, was „normal“ ist und was nicht. Er zeigt aber auch die Hilflosigkeit und die Verzweiflung derjenigen, die Ben helfen möchten, etwa seiner Eltern oder mancher Lehrer. Am Ende holt sich Ben die junge Frau (Laura Verlinden), die hinter dem Avatar der Heilerin Scarlite im Videogame steht, in seine Alltagsrealität. Durch die fiktiven Zwiegespräche mit ihr und mit der Hilfe seiner ihn liebenden Familie findet er einen Weg, den selbstgerechten „Normalos“ einen Spiegel ihrer Grausamkeit vorzuhalten. Durch die überraschende Schlusswendung seines Films macht Balthazar deutlich, dass – in Abwandlung des programmatischen Titels eines frühen Rosa-von-Praunheim-Films – nicht der Autist, sondern die Situation, in der er lebt, pervers ist.

Massive Kritik am sozialpolitischen Umgang mit besonders schweren Fällen von Autismus übt auch das französische Sozialdrama Alles außer gewöhnlich (2019) vom Regie-Duo Éric Toledano und Olivier Nakache. Der Jude Bruno (Vincent Cassel) und der Moslem Malik (Reda Kateb) sind befreundete Sozialarbeiter, die sich in Paris in ihren Einrichtungen mit viel Herzenswärme um autistische Menschen kümmern, die zuvor von ihren Angehörigen aufgegeben und vom Gesundheitssystem in Heimen weggesperrt und oft jahrelang – teilweise am Bett fixiert – festgehalten wurden. Der Film räumt auf mit dem romantischen Bild des Autisten als „gelehrten Idioten“, dass – wie gezeigt wurde – viele Filme zum Thema bis heute durchdringt. Auf der Grundlage einer authentischen Geschichte zeigen die Regisseure die Missstände im französischen Gesundheitswesen2 bezüglich der Therapie autistischer Menschen auf und führen im Handeln der beiden Hauptfiguren modellhaft ihren alltäglichen Kampf für einen normalen menschlichen Umgang mit den autistischen Menschen vor.
 

Anmerkungen

1) Im anglo-amerikanischen Raum wird in der Psychologie statt vom „Asperger-Syndrom“ oft vom „High-Functioning Autism“ gesprochen, um zu betonen, dass die autistische Persönlichkeitsstörung nicht mit einer Intelligenzschwäche einhergeht, sondern – im Gegenteil – die autistische Persönlichkeit sogar oft über eine überdurchschnittliche Intelligenz verfügt.

2) Hermann Cordes, Leiter des Instituts für Autismus-Forschung in Bremen, stellt auch in Bezug auf die Bundesrepublik fest, dass wir „in Bezug auf Autismus ein Entwicklungsland“ seien (Cordes 2016).

 

Literatur

Arens-Wiebel, C.: Kino- und Fernsehfilme sowie eine Auswahl an Lehrfilmen zu/mit Autismus/Asperger. In: Autismus Deutschland e.V., Juli 2018, Abrufbar unter: www.autismus.de (letzter Zugriff: 19.02.2021)

Autismus-Kultur: Was ist Autismus?, o.J. Abrufbar unter: autismus-kultur.de (letzter Zugriff: 19.02.2021)

Cordes, H.: „Wir sind in Bezug auf Autismus ein Entwicklungsland“. Hermann Cordes im Gespräch mit Oliver Thoma. In: Deutschlandfunk Kultur, 02.04.2016. Abrufbar unter: www.deutschlandfunkkultur.de (letzter Zugriff: 19.02.2021)

Lack, C. et al.: Autistic Disorder, o.J. Abrufbar unter: courses.lumenlearning.com (letzter Zugriff: 19.02.2021)