Wenig Raum für Rationalität

Das Unbewusste und die Interpretation von Wirklichkeit

Joachim von Gottberg im Gespräch mit John-Dylan Haynes

Medienwissenschaftler sprechen vom postfaktischen Zeitalter: Politiker operieren mit falschen Zahlen, machen im Wahlkampf unsinnige Ankündigungen – und obwohl die seriöse Presse solch angebliche Fakten als falsch entlarvt, kümmert das die Wähler wenig. Das Kommunikationsideal der Aufklärung, das auf Diskurs und an Fakten orientierter Argumentation beruht, scheint dahin. Es gibt offenbar eine gefühlte Wahrheit, eine eigene Sicht auf die Dinge, die durch entsprechende politische Pamphlete angesprochen und bestätigt wird. Aber ist das etwas Neues? Wirklichkeit und Wahrheit waren schon immer eher abstrakte Ziele und nicht etwas, was man realistisch tatsächlich erkennen kann. Und auch die Vernunft spielte bei den Erkenntnisprozessen wahrscheinlich schon immer eine eher untergeordnete Rolle. tv diskurs sprach über dieses Phänomen mit dem Psychologen und Hirnforscher Dr. John-Dylan Haynes, Professor am Bernstein Center for Computational Neuroscience, einem Verbundprojekt der Charité, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Technischen Universität Berlin.

Printausgabe tv diskurs: 21. Jg., 2/2017 (Ausgabe 80), S. 72-77

Vollständiger Beitrag als:

Sind wir Menschen in unseren Entscheidungen frei oder folgen wir dem Diktat unseres Gehirns?

Eine Kernfrage lautet: Ist der Determinismus unseres Gehirns mit einem freien Willen vereinbar? Stellen Sie sich vor, ich muss eine Entscheidung treffen, z.B., ob ich einen teuren Goldring stehle oder nicht. Ist so eine Entscheidung komplett deterministisch in mir angelegt oder habe ich irgendeine Freiheit, mich über diese innere Determination hinwegzusetzen? Die meisten Menschen gehen intuitiv davon aus, dass das Gehirn nicht vollständig festlegt, wie sie sich entscheiden werden. Sie glauben, dass noch ein Rest an Unabhängigkeit vom Determinismus besteht. Diese vermeintliche Freiheit ist eine wichtige Grundlage dafür, dass wir bereit sind, jemandem persönlich eine Schuld zuzusprechen, dass wir Menschen für ihre Taten verantwortlich machen.

Was kann die Hirnforschung zu dieser Frage beitragen?

Ein wichtiger Baustein in der Diskussion um Willensfreiheit und Verantwortung ist ein berühmtes Experiment aus den 1980er-Jahren von Benjamin Libet. Er hat in einem ganz einfachen Experiment untersucht, was passiert, wenn man sich frei entscheidet. Er hat Probanden gebeten, sich spontan zu bewegen – und zwar, wann immer sie sich aus freien Stücken dazu entschieden haben. Er hat dann festgestellt, dass ein paar 100 Millisekunden vor dem Zeitpunkt, wo die Teilnehmer das Gefühl hatten, sich zu entscheiden, das Gehirn schon wusste, dass sich jemand gleich entscheiden wird. Das ist erst einmal paradox. Wenn es mir noch freisteht, mich zu bewegen oder nicht, wie kann mein Gehirn dann wissen, dass ich mich jetzt gleich entscheiden werde? Das Gehirn bereitet also meine freien Entscheidungen schon vor, noch bevor ich selbst weiß, wie ich mich entscheiden möchte. Daraus wurde vielfach gefolgert, dass unbewusste Hirnprozesse meine – vermeintlich freie – Entscheidung verursachen. Und das wiederum würde bedeuten, dass der Eindruck der Freiheit, den ich kurz vor meiner Entscheidung habe, eine Illusion ist. Dieses Experiment war ein Eckpfeiler in der Diskussion um den freien Willen. Wir haben uns diesen Befund dann vor zwei Jahren noch einmal angesehen und uns folgende Frage gestellt: Wenn meine Hirnaktivität meine Entscheidung vorbereitet, steht damit alles fest oder kann ich mich dann noch einmal umentscheiden? Dazu haben wir ein Experiment gemacht, in dem wir in Echtzeit die Hirnaktivität, die unbewusste Entscheidung, ausgelesen und dann untersucht haben, ob Menschen noch dazu in der Lage sind, ihre Entscheidung zu ändern. Das war tatsächlich bis zu einem sehr späten Zeitpunkt möglich. Für uns folgt daraus, dass die Libet-Experimente relativ unwichtig sind für die Frage, ob es einen freien Willen gibt. Das bedeutet aber nicht, dass der freie Wille in der Naturwissenschaft dadurch wieder salonfähig geworden wäre. Man hat ja in den letzten 20 Jahren sehr klar gezeigt, dass der menschliche Geist, also unsere ganzen Denkprozesse, eins zu eins mit Hirnaktivität verbunden sind: Wenn ich etwas denke, findet das in meinem Gehirn statt, und diese Hirnprozesse unterliegen den Naturgesetzen und sind somit quasi deterministisch. Man braucht die Libet-Experimente eigentlich gar nicht, um das zu begründen.

Immanuel Kant, der Philosoph der Aufklärung, setzte auf die Vernunft, um die Welt zu verstehen und die moralisch richtigen Entscheidungen zu treffen. Was meinen Sie: Ist die Ratio wirklich das, was uns treibt?

Ich möchte betonen, dass ich hier nicht nur als Hirnforscher, sondern auch als Psychologe sitze. Auf solche Fragen bekommen wir zurzeit eher aus der Psychologie Antworten als aus der Hirnforschung. In meinen Augen werden die Bedeutung und der Einfluss der Rationalität völlig überschätzt. Der Glaube, dass unsere Entscheidungen auf rationalen Überlegungen basieren, hat sich eindeutig als falsch erwiesen. In vielen Situationen sind es unbewusste Assoziationen, Gewohnheiten oder Impulse, die unser Verhalten steuern.

Auf der Suche nach dem, was unsere alltäglichen Entscheidungen steuert, kommen wir schnell auf den Begriff des Unbewussten …

In vielen Bereichen der Psychologie hat man eindrücklich demonstriert, dass die Fähigkeit, sich selbst zu verstehen und die Ursachen für das eigene Verhalten zu erkennen, sehr begrenzt ist. Ein maßgeblicher Grund dafür ist das Auseinanderfallen von bewussten und unbewussten Verarbeitungsprozessen in unserem Gehirn. Wir haben im Schnitt 86 Mrd. Nervenzellen. Salopp formuliert könnte man sagen, dass wir aber nicht wissen, was all diese 86 Mrd. Nervenzellen zu jedem Zeitpunkt tun. Wir sind uns nur eines kleinen Teils unserer Hirnaktivität bewusst. Eine ganze Reihe von Prozessen läuft im Hintergrund ab und ist nicht nur für den betreffenden Menschen selbst schwer zu durchdringen, sondern auch für die Forscher. Am Beispiel des Autofahrens lässt sich das gut zeigen. Jeder kennt das: Wenn man lernt, Auto zu fahren, muss man sich auf jedes Detail genau konzentrieren, auf das Lenkrad, die Pedale, die Schaltung usw. Wenn man dann Erfahrung hat, fährt man quasi auf Autopilot. Die Denkvorgänge sind automatisiert, wir können viele Routinesituationen im Verkehr meistern, ohne bewusst über das Fahren nachzudenken. Wir können uns auf ein Gespräch mit dem Beifahrer konzentrieren. Wenn man diese unbewussten Leistungen untersuchen möchte, könnte man auf die Idee kommen, den Fahrer ab und zu zu fragen, ob er gerade bewusst über das Autofahren nachdenkt. Damit jedoch erzeugt man gerade das, was man eigentlich untersuchen wollte. Der Fahrer fängt an, über das Autofahren nachzudenken, gerade weil wir danach gefragt haben. Man sieht: Es ist schwierig, unbewusste Prozesse wissenschaftlich zu untersuchen, obwohl wir alle wissen, dass es sie gibt. In Anlehnung an die Kosmologie könnte man von der dunklen Materie unseres Denkens sprechen. Man weiß, dass sie da ist, aber keiner kann sie richtig untersuchen.

Emotionen beeinflussen uns in allen Bereichen des Lebens sehr. Worin sehen Sie als Psychologe und Hirnforscher die Funktion der Emotionen? Bilden sie das Gegenstück zu Vernunft und Rationalität?

Früher glaubte man, dass es vollkommen emotionsfreie Entscheidungen geben könnte. Das ist in den 1990er-Jahren vor allem durch populäre Arbeiten von Antonio Damasio ad acta gelegt worden. Er hat gezeigt, wie wichtig Emotionen und Bewertungen sind, um zu Entscheidungen zu gelangen. Die Gewichtung der Alternativen spielt eine große Rolle. Wenn wir die Optionen nicht bewerten können, könnten wir bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag über die Alternativen nachdenken. Wir haben es also in den meisten Fällen mit dem sogenannten Motivated Reasoning zu tun. Unsere zurechtgelegten Argumente werden oft von verdeckten Motiven gesteuert. Häufig geht es bei scheinbar rationalen Debatten gar nicht darum, durch eine vernünftige Diskussion zur Wahrheit zu kommen. Wir wollen Dinge auf eine bestimmte Art und Weise sehen und legen uns dementsprechend die passenden Argumente zurecht. Wenn die Fakten nicht zu meiner Meinung passen, dann sind die Fakten falsch. Faszinierend ist, dass es inzwischen sogar bei Spitzenpolitikern hoffähig geworden ist, die Fakten völlig unverblümt zu ignorieren.

Kommen wir von diesen abstrakten Überlegungen hin zu unserer modernen Medienlandschaft, die derzeit von Schlagworten wie „Fake News“ oder „Hate Speech“ geprägt ist. Wenn etwas zu unseren Vorurteilen passt, glauben wir das – und die Fakten werden ignoriert.

Es ist äußerst verwunderlich, dass die Mechanismen, über die man früher eine Art von Referenzwahrheit erhalten hat, heute nicht mehr funktionieren. Traditionell hätte man ja den Wunsch nach einer rationalen und faktenbasierten Politik. Nehmen wir an, der Wirtschaft ginge es schlecht. Man sucht Rat bei einem Experten, z.B. einem Wirtschaftswissenschaftler. Der macht eine evidenzbasierte Aussage darüber, an welchen Steuerschrauben man drehen muss, damit es der Wirtschaft gut geht. Dieser Vorschlag wird dann politisch umgesetzt. Nun hat die Wirklichkeit noch nie diesem rationalen Idealmodell entsprochen. Wissenschaftler sind sich nicht einig, welche Maßnahmen bei einer Wirtschaftskrise am besten helfen. Aber auch damit kann man rational umgehen: Man streitet, man argumentiert, man wägt ab, man führt Studien durch – und zum Schluss würde man sich dann nach rationalen Prinzipien auf das beste Vorgehen einigen können. Auch wenn das wiederum eine Idealisierung ist, haben wir doch immer ein rationales Leitbild gehabt, auf dessen Basis wir sicherstellen wollten, dass weittragende politische Entscheidungen auf den besten möglichen, evidenzbasierten Einschätzungen beruhen. Was heute erschreckt, ist, dass dieses Leitbild komplett infrage gestellt wird. Wie man als Politiker sagen kann, dass einen Fakten nicht interessieren, ist wirklich beeindruckend. Dann lebt man in einem Paralleluniversum, das mit der tatsächlichen Welt und deren Gesetzmäßigkeiten nichts mehr zu tun hat. Ein Grund dafür könnte meiner Ansicht nach die heutige Informationskultur sein, die wesentlich pluralistischer ist als früher. Das kennt wahrscheinlich jeder von sich selbst: Informationen, die man aus dem Internet bekommt, prüft man nicht alle bis ins kleinste Detail auf ihren Wahrheitsgehalt. Man glaubt einer Sache, weil sie interessant klingt, eine steile These in den Raum stellt, eine etablierte Theorie infrage stellt, aber nicht, weil man die dahinter stehende Begründung genau geprüft hat. Bei den seriösen Medien früherer Tage gab es eine andere Art der Realitätsverankerung. Man darf natürlich nicht vergessen, dass Meinungen und Moden auch früher eine große Rolle gespielt haben. Aber heute hält sich jeder selbst für einen Experten und meint, er könne sich selbst eine Meinung bilden zu Brexit, Masernimpfungen und Eurokrise. Aber diese Meinungen basieren oft auf Pseudoinformationen, deren Wahrheitsverankerung wir gar nicht in der Lage sind, zu überprüfen.

Denken wir zurück an die Rede des damaligen US-Außenministers Colin Powell, der vor der UNO Beweise vorbrachte, dass Saddam Hussein Massenvernichtungsmittel besäße. Später stellte sich heraus, dass es sich dabei um eine Lüge gehandelt hatte, der immerhin ein Krieg mit Zehntausenden von Toten folgen sollte. Fake News in größerem oder kleinerem Sinne gab es schon immer; über soziale Netzwerke usw. sind sie jetzt aber für eine größere Öffentlichkeit sichtbar.

Wenn man sich vor 20 Jahren über verstiegene Weltbilder austauschen wollte, konnte man sich vielleicht einen passenden Stammtisch suchen. Die soziale Selbstorganisation von alternativen Realitäten war dann auf einen kleinen Kreis begrenzt. Aber heute können sich auf wesentlich größerem Maßstab Communities bilden, die sich systematisch und zirkulär mit Unsinn füttern. Und jeder fühlt sich im Recht, weil er ja zahlreiche Gleichgesinnte findet. In der Psychologie ist es bekannt, dass Menschen meistens die Daten passend zur Theorie machen und nicht umgekehrt. Und die soziale Selbstorganisation führt dazu, dass man sich Menschen sucht, die ähnliche Meinungen haben. Das ist übrigens auch bei Wissenschaftlern nicht anders, aber dort müssen die Überzeugungen wesentlich härter und kritischer infrage gestellt werden.

Aber müssen Wissenschaftler nicht auch mit Thesen an die Fachöffentlichkeit treten, die sie dann auf Gedeih und Verderb vertreten müssen, um ihre Reputation nicht zu verlieren?

In der Tat! Dass sich Wissenschaftler zu sehr an ihre Theorien binden, halte ich für eines der größten Probleme in der Wissenschaft. Gerade in solchen Forschungsbereichen, in denen der Kanon des etablierten Wissens noch nicht so stark ausgeprägt ist, gibt es dafür viele Beispiele. Jemand formuliert eine Theorie und hängt dann viel zu sehr daran fest, selbst wenn die Fakten in eine andere Richtung weisen. Dieses Verhalten wird mit Sekundärfaktoren sogar als erstrebenswert begründet, z.B., dass man etwa mit einer kompromisslosen Theorie mehr wahrgenommen wird. Das ist aber irrelevant und darf kein wissenschaftliches Argument sein. In meinen Augen sollte man mit Theorien promiskuitiv umgehen. Was auch immer gerade passt, wird verwendet. Und man sollte immer mit den Daten bzw. Fakten gehen. Wenn die Daten nicht zur Theorie passen, ist die Theorie falsch, nicht die Daten. Das ist natürlich je nach Wissenschaftsfeld unterschiedlich. Das Atommodell ist inzwischen ganz gut etabliert. Für die Hirnforschung ist dieser Konsens überhaupt noch nicht erreicht. Deswegen ist es besser, eher offen zu bleiben und auch andere Theorien zu betrachten.

In der Öffentlichkeit gilt die Hirnforschung im Vergleich zur Sozialwissenschaft als faktenbasierter. Man hat das Gefühl, Hirnforscher könnten ins Gehirn schauen, daraus lesen und auf dieser Basis genaue Aussagen treffen. Wäre es nicht besser, wenn die verschiedenen Disziplinen zusammenarbeiten würden? Bei der Erforschung des Verhältnisses von Rationalität und Emotionalität könnte das gewinnbringend sein.

Ich bin begeistert von der Hirnforschung, jedoch hat die Öffentlichkeit eine stark übertriebene Erwartung an die Antworten, die wir heute geben können. Da das Gehirn ein biologischer Mechanismus ist, glaubt man, man könne es verstehen, so wie man ein Uhrwerk versteht – um dann auf dieser Basis Vorhersagen über einen Menschen zu treffen. Aber wir sind derzeit weit davon entfernt, alle Rädchen des Uhrwerkes im Gehirn eines Individuums zu verstehen. Der Grund dafür ist einfach: Ein Großteil der Hirnforschung beschäftigt sich mit Tieren, nicht mit Menschen. Wir haben zwar bildgebende Verfahren, aber wir kennen das menschliche Gehirn nicht auf der gleichen Auflösungsstufe wie das tierische Gehirn. Von einem mechanistischen Verständnis des menschlichen Gehirns zu sprechen, entspricht überhaupt nicht dem Forschungsstand. Außerdem geht es in der Hirnforschung meistens um das Durchschnittsgehirn, nicht um den spezifischen Bauplan des individuellen Gehirns. Wenn man Antworten erhalten möchte zu dem Verhältnis von Rationalität zu Emotionalität, wird man eher in der Psychologie fündig werden als in der Hirnforschung. Die Psychologie, die sich leider teilweise in einem Kompetenzgerangel mit der Hirnforschung sieht, hat sehr gute Methoden, um etwas über ein Individuum herauszufinden und individuelle Vorhersagen zu treffen. Ich halte es für einen Fehler, zu meinen, dass diese psychologischen Vorhersagen schlechter oder weniger wert sind als diejenigen, die man aus dem Gehirn bekommt – weil man in den meisten Fällen gar keine Vorhersagen aus dem Gehirn erhält, vielleicht mit Ausnahme von Erkrankungen. Ein Beispiel: Wir forschen darüber, was man über die Gedanken eines Menschen in Erfahrung bringen kann, wenn man seine Hirnaktivität misst. Wenn ich aber herausfinden möchte, wo jemand wohnt oder welches Auto er mag, würde mir das – rein praktisch gesehen – mit einem Hirnscanner sehr schwerfallen. Es ist viel einfacher zu fragen: „Wo wohnen Sie denn?“ oder: „Welches Auto finden sie am besten?“

Trotzdem haben Sie in einem Experiment untersucht, nach welchem System Präferenzen für bestimmte Politiker entstehen …

In unserer Forschung begeben sich Probanden in einen Kernspintomografen, der die Aktivitätsmuster im Gehirn misst. Wir trainieren dann Computer, diese Muster zu erkennen, womit man bis zu einem gewissen Grad erfassen kann, was jemand gerade denkt. In einem Experiment wollten wir herausfinden, wie gut man aus der Hirnaktivität lesen kann, ob jemand einen Politiker mag oder nicht. Dafür haben wir Vertreter der zwei größten deutschen Parteien, CDU und SPD, ausgewählt. Den Probanden im Scanner haben wir dann die Politikerbilder gezeigt, und wir konnten tatsächlich die individuellen Präferenzen für die Politiker und die Parteien zu einem gewissen Grad aus der Hirnaktivität rekonstruieren. Das geschah, obwohl die Probanden von den Bildern abgelenkt wurden, was darauf hindeutet, dass es eine Art automatischer Prozess zu sein scheint, der dort stattfindet, und nicht mit einer bewussten Analyse der Informationen zu tun hat. Es gibt ja viele andere Belege dafür, dass politische Entscheidungen und Präferenzen für Parteien und Politiker nicht unbedingt immer etwas mit Bewusstsein und Rationalität zu tun haben.

Schauen wir uns derzeit das Phänomen „Martin Schulz“ an. Er hat die SPD aus dem Nichts heraus mit zehn Pluspunkten aus dem jahrelangen Umfragetief gebracht. Offenbar scheint er ein Bedürfnis nach Veränderung zu bedienen oder vielleicht steht auch der Wunsch nach jemandem dahinter – ähnlich wie bei Trump –, der außerhalb des bestimmten politischen Establishments steht. Hier scheinen doch starke Emotionen beteiligt zu sein.

Ich kann da erst einmal nur spekulieren, weil ich weder Forschung zum Wahlverhalten allgemein noch zu diesem speziellen Fall gemacht habe. Klar ist aber, dass in den Präferenzen der Menschen für Politiker nicht viel Raum für Rationalität bleibt. Das lässt sich u.a. daran erkennen, wie viele diejenige Partei wählen, die schon ihre Eltern gewählt haben. Auch wenn es viele Wechselwähler gibt, gibt es gleichzeitig auch viele Menschen, deren Wahlverhalten über die gesamte Lebensspanne hinweg konstant ist. Das sieht dann eher nach einer Gewohnheit aus als nach einer rationalen Analyse der aktuellen Situation. Außerdem weiß man, dass oberflächliche Eigenschaften von Politikern bei Wahlen entscheidend sind. Es gibt eine Studie, in der man Schweizer Probanden Bilder von Personen gezeigt hat, von denen sie nicht wussten, dass es sich um französische Politiker handelt. Dann hat man gefragt, welche dieser Personen sie lieber als Kapitän auf einer Seereise hätten. Mit solchen einfachen Fragen konnte in dieser Studie der Ausgang der Wahlen in den einzelnen Wahlkreisen relativ gut vorhergesagt werden. Das bedeutet, dass eine oberflächliche Analyse der Gesichter der Kandidaten bei den Wahlen eine große Rolle gespielt hat. Angela Merkel ist hier die Ausnahme, die diese Alpha-Male-Regel bestätigt. In vielen Situationen haben Wahlentscheidungen natürlich mit Angst zu tun. Die Flüchtlingskrise hat z.B. in Deutschland sehr viel Angst geweckt und das politische Spektrum stark verschoben. Motivated Reasoning spielte plötzlich eine große Rolle: Die Angst hat die Einschätzung der Fakten verzerrt. Außerdem beobachte ich eine gewisse Komplexitätsmüdigkeit. Die Menschen scheinen vergessen zu haben, dass es sehr kompliziert ist, einen Staat zu führen. Sie sehen die Relevanz von Kompetenz nicht mehr. Das ist wirklich erschreckend.

Und das in Zeiten, die eher komplizierter als einfacher werden …

Richtig. Ich habe das zwar nicht erforscht, aber was ich als hochproblematisch einschätze, ist die dogmatische Frontenverhärtung. Wer eine andere Einschätzung hat als ich, ist mein Feind. Und ich habe verloren, wenn ich meine Meinung nicht zu 100 % umsetzen kann. Ich glaube jedoch, dass Kompromissfähigkeit eine der wichtigsten Fähigkeiten von Menschen in Gruppen ist. In einer Demokratie ist dies ja sogar in unserer Staatsform verankert. Die Unfähigkeit zu Kompromissen gibt es auf allen Seiten, auch bei Intellektuellen. Es reicht nicht aus, recht zu haben, man muss die anderen Menschen mitnehmen. Und dafür braucht es oft Kompromisse. Demokratie bedeutet, dass man auch die Armen und Schwachen und diejenigen, die problematischere Werte vertreten, zu einem gewissen Grad mitnehmen muss. Wie man in der jüngsten internationalen Politik sieht, kann man nicht einfach ganze Bevölkerungsteile zurücklassen. Wenn die das Gefühl haben, überhaupt nicht mehr repräsentiert zu sein, dann wählen die einen anderen. Das ist nun mal die Staatsform, in der wir leben. Mir gefällt auch nicht immer, mit wem ich an einem Tisch sitze, aber dennoch muss ich mich arrangieren.

Dr. John-Dylan Haynes ist als Psychologe und Hirnforscher Professor am Bernstein Center der Charité und an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Prof. Joachim von Gottberg ist Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) und tv-diskurs-Chefredakteur.