Vom Selbst- zum Massenmord

Terroristische Propaganda und die Verantwortung der Medien

Alexander Ritzmann

Alexander Ritzmann ist Executive Director der European Foundation for Democracy (EFD) in Brüssel und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Brandenburgischen Institut für Gesellschaft und Sicherheit (BIGS) in Potsdam.

Die strategischen Ziele und taktischen Maßnahmen terroristischer Organisationen werden von den Medien häufig falsch vermittelt. Journalisten fungieren außerdem als unfreiwillige Helfershelfer der Propagandaabteilungen von al-Qaida oder des Islamischen Staates. Kinder, Jugendliche und psychisch labile Erwachsene, die besonders anfällig für extreme Einflüsse sind, können durch diese Art der Berichterstattung zur Nachahmung von Attentaten und Amokläufen inspiriert werden.

Printausgabe tv diskurs: 20. Jg., 4/2016 (Ausgabe 78), S. 48-51

Vollständiger Beitrag als:

Um Menschen, insbesondere Kinder und Jugendliche, vor den Einflüssen von Propaganda terroristischer Organisationen besser schützen zu können, sollte man zunächst einmal identifizieren, was die Propaganda erstens so erfolgreich und zweitens so gefährlich macht.

Terrorismus ist die extremste Form der politischen Kommunikation. Dabei dient der Terror eher als Taktik denn als Strategie. Er ist Mittel für einen bestimmten Zweck. Es gibt offensichtlich gravierende Unterschiede zwischen den Kommunikationsstrategien derer, die ihre politischen Forderungen durch möglichst brutale, angsteinflößende Gewalttaten erreichen wollen. Alle vereint jedoch, dass Terror als tödliches Theater nur funktioniert, wenn es Zuschauer gibt und diese irrational reagieren, aus Sicht der Terroristen im optimalen Fall sogar überreagieren. Es geht Terroristen also nicht darum, ihre Gegner einfach nur zu verängstigen. Sie wollen vielmehr Gesellschaft und Regierung in eine ganz bestimmte Richtung manipulieren.

Terror als tödliches Theater funktioniert nur, wenn es Zuschauer gibt und diese irrational reagieren, aus Sicht der Terroristen im optimalen Fall sogar überreagieren.

Regierungen sollen nach Terroranschlägen – durch öffentlichen Druck der verängstigten Bevölkerung, die Forderungen der Terroristen zu erfüllen – ihre bisherige Politik ändern. Osama Bin Laden wollte beispielsweise, dass sich die USA aus dem Nahen Osten zurückziehen. Der Anführer der Terrororganisation al-Qaida stand in erster Linie in Konfrontation mit den meisten Regimen in der arabischen Welt, er bezeichnete sie als den „nahen Feind“. Da Bin Laden diese nicht militärisch besiegen konnte, sollten die Anschläge vom 11.09.2001 dazu dienen, die USA, den sogenannten „fernen Feind“, in einen großen Krieg zu ziehen. Durch eine Invasion der USA in ein arabisches Land sollte al-Qaida von Sympathisanten und Unterstützern erheblich mehr Unterstützung bekommen. Mehr Geld, mehr Kämpfer, das war das Ziel dieser Eskalationsstrategie. Die Anschläge am 11.09.2001 waren das taktische Mittel, um den „fernen Feind“ auf das heimische Schlachtfeld zu locken. Die Folgen sind bekannt und allgegenwärtig.

Die Propagandakampagnen von al-Qaida haben in den vergangenen Jahren an Relevanz verloren, was auch am Tod des charismatischen Osama Bin Laden liegen dürfte. Sein Nachfolger, der professoral-langatmige Aiman al-Sawahiri, ist für den Medienkrieg des 21. Jahrhunderts weniger talentiert.

Ganz anders verhält es sich mit der Propagandabilanz des selbst ernannten „Islamischen Staates im Irak und der Levante“ (IS). Diese ehemalige al-Qaida-Repräsentanz im Irak war schon immer etwas Besonderes. Ihre Strategie lag ebenfalls in der Eskalation, jedoch mit einem Fokus auf innerislamische Konflikte und die „nahen Feinde“. Explizit ging es darum, schiitische Muslime zu töten, wo immer möglich. Dies war selbst Bin Laden zu viel, der seine Anhänger im Irak damals öffentlich zur Mäßigung aufrief. Im Jahr 2011 kam dann die völlige Lossagung des IS von al-Qaida. Trennungsgrund waren in erster Linie strategische Differenzen.

Heute dominiert der IS die öffentliche Wahrnehmung, was den islamistischen Terrorismus angeht. Die Konkurrenz, von al-Qaida über die Taliban bis Hisbollah, sowie diverse andere islamistische Akteure, die gezielt Gewalt gegen Zivilisten zur Durchsetzung ihrer politischen bzw. religiösen Ziele einsetzen, sind weit abgeschlagen.

Worin liegt das Erfolgsgeheimnis des selbst ernannten Islamischen Staates?

Propaganda, also Manipulation von Information, ist dann erfolgreich, wenn sie nah an der Wahrheit liegt. Die Narrative der IS-Propaganda drehen sich um Gerechtigkeit und Schutz, Rache und Barmherzigkeit, Aufbau und Verteidigung, Paradies und Hölle, militärische Erfolge und Abenteuer. Und um grausame Hinrichtungen, wobei diese den geringsten Teil der Propaganda darstellen, über westliche Medien jedoch die größte Aufmerksamkeit bekommen.

Viele dieser Narrative sind in Teilen wahr. Dazu gehört beispielsweise, dass sunnitische Muslime im Irak und Syrien von schiitischen und alawitischen Regierungstruppen und Milizen verfolgt und ermordet wurden und werden. Die ersten Sunniten aus dem Westen reisten deshalb vor allem zu deren Rettung und Schutz aus. Dem zweiten Narrativ, der Errichtung des Kalifats, einer romantisierten Utopie, folgte tatsächlich der Versuch eines Staatsaufbaus. Der IS warb um Ingenieure und Bürokraten, Lehrer und Krankenschwestern. Einige folgten diesem Ruf.

Daraufhin erklärte der IS es zur religiösen Pflicht für jeden Muslim, beim Aufbau des Kalifats zu helfen und es zu verteidigen. Dies sei der sichere Weg in den Himmel. Für Menschen, die Angst vor der Hölle haben, ist das ein gewichtiges Argument.

Was in westlichen Medien und von westlichen Politikern als „sinnlose Barbarei“ porträtiert wird – die Hinrichtungen von „Spionen“ und Geiseln sowie Anschläge auf zivile Ziele –, rechtfertigt der IS mit einer „Wie-ihr-uns, so-wir-euch“-Logik. Die klare Aussage lautet: Wenn ihr aufhört, uns zu bombardieren und auszuspionieren, hören wir ebenfalls auf, euch anzugreifen. Die Glaubwürdigkeit dieser Aussage darf jedoch stark bezweifelt werden. Der IS würde sich so oder so Europa zuwenden, nur eben etwas später. In seinen Propagandaschriften wird die (Rück-)Eroberung Spaniens genauso explizit genannt wie die Zerstörung Roms oder Berlins.

Die besondere Wirksamkeit der IS-Propaganda liegt zudem an der technischen Professionalität. Full-HD-Videos in 16:9-Kino-Qualität, mit Referenzen zu populären Onlinespielen und bereits vorhandener jugendlicher Subkultur, soll den „Dschihadi-Cool“ erzeugen. Der gerechte Kampf gegen Establishment und Imperium heute wird demnach von den Anhängern des IS ausgetragen. Dazu gehört es immer auch, die menschliche Seite des Kalifats zu zeigen. Die neue Familie, nach der viele derer suchen, die sich dem IS anschließen, wird zelebriert. Es wird gemeinsam gesungen und gekocht, gebadet und gefeiert. Streng geschlechtergetrennt natürlich.

Wirksame Propaganda liegt nah an der Wahrheit

Diese Mischung aus teilweise oder in Teilen wahren Narrativen, dem real existierenden Kalifat, professioneller Medienarbeit, himmlischen Heilsversprechen und postpubertärem Abenteuertum, macht das Angebot des IS besonders attraktiv.

Die Anhänger des IS lassen sich dementsprechend in drei Gruppen einteilen. Zunächst sind das diejenigen, die sich als Beschützer sehen. Ihnen geht es darum, sunnitische Muslime, insbesondere Frauen und Kinder, zu verteidigen oder zu rächen. Die zweite Gruppe besteht aus den Suchenden, die ein „Upgrade“ zu ihrem bisherigen Leben wollen. Sie streben nach Aufmerksamkeit, Abenteuer und Heldentum und wollen ihre Sexualität mit mehreren Ehefrauen und Sklavinnen ausleben. Die dritte Gruppe besteht aus den Mitläufern, die ihren Freunden folgen.

Frauen, die sich dem IS anschließen, reizt die Utopie, an der Erschaffung einer gerechten islamischen Gesellschaft mitwirken zu können, und das vom IS porträtierte Image eines rechtschaffenen, gottesfürchtigen Ehemannes. Für einige Muslimas, die zu Hause von männlichen Familienmitgliedern unterdrückt werden, stellt es zudem eine Art von Gerechtigkeit dar, dass sich im IS-Land auch die Männer an die strengen Scharia-Regeln halten müssen, zumindest behauptet das die Propaganda.

Wo genau liegt die Verantwortung der Medien?

Was bedeutet das für die Medienberichterstattung? Nach den Anschlägen von Paris, Brüssel, Nizza, Ansbach und Würzburg wird im kleinen Kreis kritisch diskutiert, was Journalisten berichten sollen und müssen. Wo genau liegt ihre Verantwortung, um zu verhindern, dass sie sich unfreiwillig zum Propagandainstrument von Terroristen machen?

Angst im soziopolitischen Kontext entsteht und wächst, wenn Menschen Zusammenhänge nicht verstehen. Diese Angst führt zu Fehl- und Überreaktionen und in Demokratien zur Wahl von Parteien, die Urinstinkte bedienen. Genau das ist es, was Terroristen erreichen wollen. Der IS beispielsweise erklärt explizit, dass er durch seine Aktivitäten die Angst von Nichtmuslimen gegenüber Muslimen in westlichen Gesellschaften schüren will. Muslime sollen sich als Resultat antimuslimischer Ressentiments ausgegrenzt und verfolgt fühlen. Die daraus entstehende Angst vor Diskriminierung und Verfolgung soll sie dem Kalifat in die Arme treiben. Die Burkini-Debatte der letzten Monate zeigt insbesondere in Frankreich dramatisch, wie diese Strategie langsam an Fahrt gewinnt.

Erste Aufgabe der Medien muss deshalb sein, nicht nur zu zeigen, was passiert ist, sondern auch den Kontext zu erklären. Wie oben gezeigt, handelt es sich beim islamistischen Terrorismus, und insbesondere beim IS, um ein komplexes Phänomen. Dies erfordert vertiefte Befassung mit dem Thema und eine gewisse Fachkenntnis. Dieser Hinweis mag wohlfeil klingen, weil viele Redaktionen sich bei der Liveberichterstattung im Wettlauf mit den sozialen Medien sehen.

Im Kodex des Deutschen Presserates zur Berichterstattung über Gewalttaten ist Folgendes zu lesen: „Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid. Die Presse beachtet den Jugendschutz.“ Und weiter heißt es: Die Presse lässt sich „nicht zum Werkzeug von Verbrechern machen.“

Wird dieser Kodex im Kontext der Selbstkontrolle der deutschen Medien ausreichend berücksichtigt? Klar ist, dass wer nicht den Kontext erklärt und die hinter den Anschlägen stehende Logik zeigt, die Propagandaarbeit der Terroristen macht. Daran gibt es nichts zu rütteln.

Sind Journalisten für die Folgen ihres Handelns verantwortlich?

Im Sinne der Weber’schen Verantwortungsethik, nach der man für die voraussehbaren Folgen seines Handelns verantwortlich ist, eine sicherlich provozierende Erkenntnis. Für Kinder und Jugendliche kann eine unreflektierte Berichterstattung eine direkte Gefahr darstellen. Sie sind besonders anfällig für Narrative und Propaganda, die sich mit existenziellen Fragen wie Leben und Tod, Gerechtigkeit und Abenteuer befassen. Der sogenannte „Werther-Effekt“ ist in der Psychologie und im kritischen Mediendiskurs beispielsweise weitgehend etabliert. In Referenz zu einer Serie von Selbstmorden junger Männer, die im Nachgang des im Jahr 1774 von Johann Wolfgang von Goethe verfassten Romans Die Leiden des jungen Werther stattfanden, werden Selbstmorde in Deutschland meist nur berichtet, wenn dies im öffentlichen Interesse steht. Man befürchtet, insbesondere junge Menschen zur Nachahmung zu animieren.

Vom Selbstmord zum Massenmord?

Der Nachahmungseffekt als Folge unreflektierter Berichterstattung von Selbstmorden gilt als wissenschaftlich belegtes Phänomen. Die Frage, die sich hier stellt, ist, ob durch die gegenwärtige Berichterstattung aus dem Selbstmord als Nachahmungstat der Mord als Nachahmungstat werden kann.

Bei einigen der „islamistischen“ Attentäter der letzten zwölf Monate wurden psychische Krankheiten vermutet oder diagnostiziert. Einige haben laut Medienberichten darüber gesprochen oder auch versucht, sich das Leben zu nehmen. Diese wegen vermeintlich fehlender direkter Verbindungen zu einer Terrororganisation sogenannten „lone wolfs“ bekennen sich immer häufiger in letzter Minute öffentlich zum sogenannten Islamischen Staat und bekommen damit eine weltweite Bühne und Aufmerksamkeit, die sonst nur mediale Superstars erreichen.

Birgt also die allgegenwärtige und oft unreflektierte Berichterstattung über Anschläge und Attentäter die Gefahr, Jugendliche und psychisch labile Erwachsene erst auf die Idee zu bringen, Anschläge zu verüben? Viele Selbstmörder, Amokläufer und Attentäter streben nach Ruhm und Aufmerksamkeit. Wer „Allahu Akbar“ ruft und sich zum Kalifat bekennt, wird durch seine Tat „unsterblich“.

Den Attentätern die Bühne nehmen

In Frankreich haben sich deshalb einige Medien verpflichtet, keine Details über die Attentäter zu berichten. Keine Fotos, keine Lebensgeschichte, kein Ruhm steckt hinter diesem Vorgehen. Die Satirezeitung „Der Postillon“ berichtet darüber mit der Schlagzeile: Medien zeigen Terroristen und Amokläufer nur noch mit Clownsnase und Hasenzähnen, um die vermeintliche Absurdität dieses Vorgehens zu unterstreichen. Die meisten Medien argumentieren auch weiterhin mit ihrer Pflicht, die Bevölkerung zu informieren. Aber kommt die mediale Berichterstattung damit ihren Pflichten nach?

Nicht zu berichten, ist jedenfalls keine Lösung, da Interessierte über soziale Medien bereits jetzt einen teils direkten Zugang zur Propaganda haben. Außerdem könnte eine zu stark (selbst-) zensierte Berichterstattung bereits vorhandenen Verschwörungstheorien Vorschub leisten, die behaupten, die Anschläge wären allesamt von westlichen oder israelischen Geheimdiensten durchgeführt worden.

Nicht zu berichten, ist keine Lösung.

Offene Gesellschaften leben vom inhaltlichen Streit über die besten Lösungen und von der Suche nach einem tragbaren Kompromiss. Die Medien regulieren sich in Deutschland zwar weitestgehend selbst. Es ist jedoch notwendig, dass die Diskussion über die Berufsethik von Journalisten, die in Ansätzen bereits existiert, intensiviert wird.

Die Frage nach der Verantwortung im Umgang mit Bildern und Botschaften terroristischer Organisationen, insbesondere die kritiklose Übernahme von Vermutungen und Vorverurteilungen (wie zuletzt beim Amoklauf in München geschehen), gehört zwingend mit dazu. Um die Wirkung terroristischer Propaganda zu reduzieren, muss deutlich qualifizierter über die Hintergründe, Taktiken und Strategien von Terrororganisationen berichtet und diskutiert werden. Rechercheverbünde verschiedener Medien, redaktions-, sender- und branchenübergreifende Kooperations- und damit Kompetenzzentren, die es in Teilen bereits gibt, zeigen hier in die richtige Richtung.

Journalisten sollten sich außerdem fragen und müssen sich fragen lassen, ob eine Ausweitung des „Werther“-Prinzips auf sogenannte „lone wolfs“, also eine modifizierte Berichterstattung über die persönlichen Hintergründe von Attentätern, nicht sinnvoll und notwendig ist.

Außerdem müssen Kinder und Jugendliche für den Umgang mit Medien, politischer Gewalt und Propaganda besser vorbereitet werden. Dazu gehören Trainings zur kritischen Medienkompetenz und Diskussionskultur sowie offene Diskussionen in Schulen über kontroverse politische Themen. Das kostet Zeit und Geld und erfordert eine Anpassung der Lehrpläne. Ohne dies werden die Herausforderungen unserer offenen Gesellschaft und Mediendemokratie jedoch kaum zu meistern sein.

Literatur

Horgan, J.: The Psychology of Terrorism. New York 2014

Langman, P.: Amok im Kopf. Warum Schüler töten. Weinheim/Basel 2009

Nacos, L. B.: Revisiting the Contagion Hypothesis: Terrorism, News Coverage, and Copycat Attacks. In: Perspectives on Terrorism, 3/2009/3, S. 3–13

Stack, S.: Media coverage as a risk factor in suicide. In: Epidemiol Community Health, 57/2003, S. 238–240

Winter, C.: Documenting the Virtual ‚Caliphate‘. Quilliam Foundation 2015