Trotz-Terror

Von der modernen Aufklärung über die postmoderne Beliebigkeit zur spätmodernen Gewalt

Arnd Pollmann

Arnd Pollmann ist Philosoph, Buchautor und u. a. Mitherausgeber des Onlinemagazins www.slippery-slopes.de.

In: tv diskurs. Verantwortung in audiovisuellen Medien
21. Jg., 3/2017 (Ausgabe 81), S. 40-45

Zahlreiche Ereignisse der jüngeren Vergangenheit, die von teilweise enormer politischer Unvernunft, von undemokratischen Gesinnungen, autoritären Sehnsüchten bis hin zu terroristischer Gewalt zeugen, scheinen für einen zivilisatorischen Rückfall westlicher Demokratien in vormoderne Denkmuster zu sprechen. Ist die moderne Aufklärung damit neuerlich „am Ende“? Oder sind die Ereignisse selbst hausgemacht und damit bloß Ausdruck einer in „Relativismus“ umgeschlagenen Aufklärung, die sich vor dem „Nichts“ zu ängstigen beginnt? Der Beitrag geht dem untergründigen Zusammenhang von Rationalismus, Sinnverlust, Angst und Gewalt nach.

Vollständiger Beitrag als:

Text Pollmann Trotz-Terror

Wieder einmal scheint das Projekt der Aufklärung in einer tiefen Krise zu stecken. Das Wiedererstarken von Traditionalismus, Nationalismus und Rassismus in vielen Teilen Europas, reaktionäre Regierungen in Polen, Ungarn und der Türkei, der drohende Zerfall der EU, ein unberechenbarer Narzisst im Weißen Haus, der Erfolg der AfD hierzulande, der wachsende Widerstand gegen Flüchtlinge, die markante Zunahme von kriminellen Gewaltdelikten, immer mehr Attacken auf politische Mandatsträger, die Enthemmung in den sozialen Netzwerken, die jüngsten Gewaltexzesse beim G-20-Gipfel in Hamburg, religiöser Fundamentalismus allerorten und nicht zuletzt die barbarischen Terroranschläge in Paris, Nizza, Istanbul, London und am Berliner Breitscheidplatz: Auch wenn man sich fragen darf, was genau diese vielen verschiedenen Vorkommnisse gemein haben, so spürt man am Ende eben doch, dass es da einen gewissen Zusammenhang zu geben scheint. Nur welchen? Und lässt sich dieser untergründige Zusammenhang tatsächlich auf den Begriff einer neuerlichen Krise der modernen Aufklärung bringen oder gar auf die These eines zivilisatorischen Rollbacks in vormoderne Denkmuster?


Das andere Gesicht der Aufklärung

Vieles spricht dafür, dass unsere westlichen Demokratien in diesen gewalttätigen Tagen auf neue Weise von „alten Ängsten“ heimgesucht werden, die mit der Aufklärung eigentlich schon längst überwunden sein sollten; Ängste vor zivilisatorischer Unvernunft etwa, vor gesellschaftlicher Regression, politischer Unfreiheit und vermeintlich „sinnloser“ Gewalt. Erste Anhaltspunkte für diese zeitdiagnostische These ergeben sich im Lichte eines faszinierenden philosophischen Buches, das vor genau 70 Jahren, d.h. kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, erschienen ist und den schwer verständlichen Titel Dialektik der Aufklärung trägt. Als sich seine beiden Autoren, die Philosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, zu Beginn der 1940er-Jahre im amerikanischen Exil an die Arbeit machen, sehen sie sich mit einer weltpolitischen Großwetterlage konfrontiert, in der die moderne Aufklärung nicht gerade den historischen Endsieg davonzutragen scheint. Vielmehr kulminieren globale Unvernunft, globale Unfreiheit, faschistische Tyrannei und totalitäre Vernichtung. Die Welt ist vollständig aus den Fugen geraten. Sie hat aus dem Ersten Weltkrieg nichts gelernt. Der Zweite Weltkrieg wütet umso grausamer. Und der deutsche Faschismus verfolgt nicht bloß wahnwitzige außenpolitische Expansionsbestrebungen, sondern vor allem auch die völlige Auslöschung des europäischen Judentums. Woran, so fragen sich Horkheimer und Adorno in dieser desaströsen Situation, sollte eine nach Aufklärung dürstende Philosophie angesichts dieser Katastrophe noch festhalten können?

Die Dialektik der Aufklärung will die seinerzeit grassierende Barbarei zeitdiagnostisch auf den Begriff bringen. Und die bis heute anhaltende Provokation des Buches liegt darin, dass Horkheimer und Adorno die Schuld für die schier aussichtslose Lage, in die das Projekt der Aufklärung geraten ist, den Projektleitern der Aufklärung selbst in die Schuhe schieben wollen. Eben das ist mit dem auf den ersten Blick kryptischen Titel des Buches gemeint: Wir haben es angesichts von Krieg und Massenvernichtung nicht etwa mit einem Rückfall in vormodern unaufgeklärte Zeiten zu tun. Vielmehr unterliegt die Aufklärung selbst, und zwar von Beginn an, einer unheilvollen Dialektik, die an das Schicksal von Goethes Zauberlehrling erinnert: Die Aufklärung will Ordnung ins Chaos der Unvernunft bringen, sie geht dabei vor allem gegen die Angst des Menschen vor der Übermacht der Natur vor. Doch ruft sie dabei unentwegt neue unheilvolle Geister auf den Plan – z.B. Kriegsgerät, Konzentrationslager, Atombomben –, die sich bald schon destruktiv gegen den Zauberlehrling wenden und so das Anliegen der vernünftigen Weltordnung in völlig neue Formen einer unvernünftigen Unordnung umschlagen lassen: Herr, die Not ist groß! / Die ich rief, die Geister / Werd ich nun nicht los“. Oder weniger poetisch ausgedrückt: Horkheimer und Adorno sind der Auffassung, dass die Aufklärung nicht etwa das Opfer von Krieg, Faschismus und Massenvernichtung ist. Vielmehr sind Krieg, Gewalt, ja, selbst Faschismus und der Holocaust lediglich unterschiedliche Erscheinungsformen einer historisch und zivilisatorisch „gereiften“ Aufklärung.


Die neue Sackgasse

Mag die heutige Situation auch schwerlich mit der damaligen Weltlage zu vergleichen sein – jedenfalls nicht hierzulande (in Aleppo oder Mossul mag man das anders sehen) –, der zeitdiagnostische Grundgedanke ist aktuell geblieben: Wenn wir verstehen wollen, wie es um unsere Gegenwart bestellt ist, sollten wir die Krisen unserer Zeit nicht als Rückfälle in vormodern unaufgeklärte Zeiten deuten, sondern als Ausdruck einer modernen Aufklärung, die stets aufs Neue in Sackgassen gerät. Dabei zeigt sich, dass das derzeit schwerwiegendste Problem der Aufklärung darin besteht, dass sie historisch gleich zwei zentrale Denkbewegungen in Gang gesetzt hat, die uns heute beide selbstverständlich erscheinen, die sich bei genauerem Hinsehen jedoch nur schwer vertragen: Da ist zum einen der unermüdliche Einsatz der Aufklärung im Dienste von Immanuel Kants Leitspruch „Sapere aude!“: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Gemeint ist das Plädoyer für einen autonomen Vernunftgebrauch, der in moralischer, rechtlicher und politischer Hinsicht zu immer mehr Freiheit, Frieden, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Menschenwürde und Menschenrechten führen soll. Und da ist zum anderen ein sich mit der Aufklärung lebensweltlich ausbreitender Skeptizismus, der besagt: Hüten wir uns vor den Verkündern ewiger Wahrheiten!

Diese aufgeklärte Skepsis hat sich zu Beginn, und zwar zu Recht, gegen das weltanschauliche Diktat dogmatischer Überlieferungen und traditionell bzw. religiös verordneter Gewissheiten gestemmt. Heute aber entsagt diese Haltung konsequenten Zweifelns zunehmend jeder Art von metaphysischer, weltanschaulicher oder auch moralischer Gewissheit, wodurch sie vielerorts in einen intellektuell unheilvollen „Relativismus“ historischer und interkultureller Beliebigkeit umschlägt. Wer wird es sich heute noch anmaßen, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben? Wieso sollten „wir“, die wir im sogenannten Westen leben, es besser als andere wissen? Ist unser wissenschaftliches Wissen nicht bloß „Herrschaftswissen“, d.h. Ausdruck eines imperialen Machtstrebens der weißen, besitzenden Klasse und somit das Resultat einer Jahrhunderte währenden Geschichte der Unterdrückung? Warum sollten „wir“ anderen Menschen vorschreiben dürfen, wie diese zu leben haben? Oder ganz aktuell: Wieso sollten wir, die wir ohnehin global begünstigt sind, darüber bestimmen dürfen, wer zu uns kommen darf und wer nicht?


Postmoderne Beliebigkeit

Der aufgeklärte Skeptizismus mag für viele kritische Intellektuelle eine geistige Labsal sein, im Alltag jedoch führt er zu massiven Verunsicherungen und letztlich auch zu einer gefährlichen Wiederkehr „unaufgeklärter“ Ängste: Woran können wir uns heute überhaupt noch halten, wenn es keine „letzten“ Wahrheiten mehr gibt? Vor allem aber führt diese Skepsis zu einem sehr grundlegenden Widerspruch innerhalb des Projekts der Aufklärung, da man nicht beides zugleich haben kann: ein starkes, selbstbewusstes Plädoyer für Vernunft, Freiheit, Demokratie usw. einerseits und zugleich auch andererseits die relativistische Weigerung, eine jeweils bestimmte Gewissheit als für alle Menschen gleichermaßen verbindlich zu akzeptieren. Um hier nur zwei beliebige Beispiele für derartige Widersprüche zu geben: Muss man tolerant selbst noch gegenüber jenen sein, die, wie etwa Neonazis, Salafisten oder auch Linksextreme, die Toleranz ihrerseits mit Füßen treten? Wenn nein: Wer gibt uns unsererseits das Recht zu dieser Intoleranz? Oder: Kann man interkulturell aufgeschlossen sein, den Pluralismus emphatisch bejahen und doch zugleich die afrikanische Tradition der Klitorisbeschneidung kritisieren? Wenn ja: Woher nehmen wir dann die universellen Maßstäbe für diese Kritik?

Diese zweite Denkbewegung, der aufgeklärte Relativismus, scheint derzeit einen vorläufigen Sieg davonzutragen. Zunächst führt dies zum Problem „postmoderner Beliebigkeit“: Alle Meinungen, die von Menschen vorgebracht werden, und zwar vor allem von Menschen, die nicht weiß, europäisch, männlich, besitzend, heterosexuell, christlich usw. sind, verdienen allesamt exakt denselben Respekt. Warum das ein Problem ist? Weil man sich mit diesem Relativismus der kritischen Instrumente beraubt, die man benötigt, um Ungerechtigkeit, Diskriminierung, Gewalt und andere inhumane Praktiken begründet zurückweisen zu können. Das Problem verschärft sich, indem die diagnostizierte Auflösung weltanschaulicher Gewissheiten nicht bloß lebenspraktische Unsicherheiten hinterlässt, sondern immer öfter auch eine gewisse spätmoderne „Leere“; eine Leere, die vielen Menschen zunehmend Angst macht, ja, die regelrecht Panik schürt. Der alltagspraktische Relativismus schlägt mehr und mehr in einen „Nihilismus“ um, wenn immer mehr Menschen keinen übergeordneten Sinn mehr in ihrem Leben sehen.


Entzauberung der Welt

Es war der Soziologe Max Weber, der diesen durch die Aufklärung bewirkten Sinnverlust bereits sehr früh diagnostizierte und seiner eigenen Zeit damit sehr weit voraus war: „Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung“, so Weber im Jahre 1919, „bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.“ Und Weber fährt fort: „Ein Kulturmensch aber, hineingestellt in die fortwährende Anreicherung der Zivilisation mit Gedanken, Wissen, Problemen, der kann ‚lebensmüde‘ werden, aber nicht: lebensgesättigt. Denn er erhascht von dem, was das Leben des Geistes stets neu gebiert, ja nur den winzigsten Teil, und immer nur etwas Vorläufiges, nichts Endgültiges, und deshalb ist der Tod für ihn eine sinnlose Begebenheit. Und weil der Tod sinnlos ist, ist es auch das Kulturleben als solches, welches ja eben durch seine sinnlose ‚Fortschrittlichkeit‘ den Tod zur Sinnlosigkeit stempelt.“ (Weber 1919/1992)

Weber stellt hier also unmittelbar einen Zusammenhang her zwischen dem Prozess moderner Rationalisierung, dem vermeintlichen Anwachsen von Wissen und Macht über die Welt, einer damit einhergehenden „Entzauberung“ dieser Welt und einer damit auf irritierende Weise kontrastierenden Sinnlosigkeit und Lebensmüdigkeit aufseiten des modernen Menschen. Die Aufklärung vernichtet den vormals durch Mythen, Überlieferung, Religion, Tradition und Erziehung „objektiv“ vorgegebenen Sinn des Lebens, der die Menschen einst davor bewahrt hat, sich unentwegt selbst über Sinn und Zweck ihrer Existenz den Kopf zu zerbrechen. Die moderne Sinnsuche wird somit zu einem Privatvergnügen, das sich freilich als äußerst frustrierend, ermüdend und beschwerlich, weil tendenziell aussichtslos, erweist. Man darf daher annehmen, dass diese moderne Sinnsuche samt der lebenspraktischen Leere, die sie hinterlässt, von vielen „lebensmüden“ Menschen als kaum erträglich empfunden wird. Moderne Menschen suchen Sinn, geraten dabei in Sackgassen. Diese Sackgassen machen Angst, und diese Angst wiederum ist gesellschaftlich gefährlich. Denn vielerorts und immer häufiger scheint das geradezu verzweifelte Bemühen aufzukommen, die drohende Trostlosigkeit und mithin die eigenen Ängste dadurch vergessen zu machen, dass man die entstandenen Sinnlöcher zwanghaft mit neuen oder auch alten Sinnangeboten zu stopfen beginnt – und zwar notfalls mit Gewalt.


Philosophie der Angst

Aus existenzphilosophischer Sicht zählt die Angst zu jenen zentralen Erfahrungen im Leben des Menschen, in dessen Licht das Leben als Ganzes auf dem Spiel zu stehen scheint und daher zu Bewusstsein kommt. Damit ist ersichtlich mehr gemeint, als dass man in Situationen der Angst mit sehr konkreten Bedrohungen konfrontiert wäre, denen man ins Auge sehen, denen man aber auch ausweichen könnte. Nach einer berühmten Unterscheidung Søren Kierkegaards richtet sich die „Furcht“ auf ein jeweils konkretes, bevorstehendes Übel, während die „Angst“ als eine vermeintlich gegenstandslose und zunächst eher diffuse Befindlichkeit verstanden werden muss. In der Furcht stoßen wir auf Hindernisse, die uns hemmen oder aber zur Flucht zwingen, in der Angst hingegen wird uns das Leben als solches zum Hindernis. Es war vor allem Martin Heidegger, der deshalb von der Angst als einer „ausgezeichnete[n] Befindlichkeit“ sprach, mit der die Möglichkeit einer „Entschlossenheit“ des Strukturganzen menschlichen Daseins einhergehe. Das bedeutet: In der Angst wird das eigene Dasein mit sich selbst und der eigenen Verantwortung konfrontiert.

Situationen der Angst stellen nach Heidegger insofern einen Ganzheitsbezug zur eigenen Existenz her, als in ihnen eine doppelte Sorge um das eigene Dasein aufbricht. Einerseits muss die Angst als ein massives Unbehagen angesichts der „Unheimlichkeit“ einer Welt verstanden werden, der wir ohnmächtig und schutzlos ausgeliefert sind. Andererseits resultiert aus dieser Vereinzelung immer auch „die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens“. Angstvolle Situationen lassen den Menschen erkennen, dass es einzig an ihm liegt, sein Dasein zu führen. Der Mensch ist, wie Jean-Paul Sartre in unmittelbarer Nähe zu Heidegger sagt, zur Freiheit „verurteilt“: Wir sind als Menschen restlos für unser Leben selbst verantwortlich, haben buchstäblich die Qual der Selbstwahl und laufen dabei ständig Gefahr, mit unseren Lebensentwürfen zu scheitern und in völlige Bedeutungslosigkeit – das „Nichts“, wie Sartre sagt – zurückzufallen. Die Angst ist daher die existenzielle Kehrseite der Freiheit und umgekehrt. In der Angst „ängstigt sich die Freiheit vor sich selbst“, weil in ihr die Notwendigkeit spürbar wird, die nackte Existenz führen und auf zukünftige Lebenswege festlegen zu müssen.

Genau an diesem Punkt kommt der drohende Sinnverlust durch Aufklärung ins Spiel: Fallen „objektiv“ vorgegebene Sinnangebote weg, wird immer häufiger eben jene Freiheit spürbar, von der es heißt, sie mache Angst. Der Mensch ängstigt sich weniger vor dem völligen Nichts bzw. vor der Sinnlosigkeit als solcher, sondern vor der existenziellen Notwendigkeit, wählen und sich entscheiden zu müssen, und der dabei stets drohenden Gefahr, kläglich zu scheitern. Der moderne Mensch ist auf unheimliche Weise auf sich selbst zurückgeworfen: Es stehen existenzielle Entscheidungen an, die ihm als einem „aufgeklärten“ Menschen niemand abnehmen kann. Ihm ist damit auf beklemmende Weise der Boden unter den Füßen weggezogen. Und so mag in derart aufgeklärten Individuen zunehmend der Wunsch aufkommen, diesem Unbehagen auszuweichen, es zu verdrängen, zu unterdrücken, zu überspielen. Oder aber umgekehrt: Das moderne Individuum tritt die Flucht nach vorn an.


Die Jugend von heute

Während viele moderne Menschen ihre Ängste dadurch bekämpfen, dass sie sich in Ablenkung, Sucht, Konsum, Geschäftigkeit, Stress, Arbeit, Sport, Konformität u.Ä. stürzen, greifen andere – und zwar insbesondere jüngere Menschen – zu drastischeren Methoden, indem sie ihre Ängste direkt ausagieren. Dies lässt sich am Beispiel verschiedenster „Jugendkulturen“ anschaulich machen, die in den letzten Jahren eine überaus erklärungsbedürftige Tendenz zu immer mehr Gewalt aufweisen. Ob salafistische Sympathisanten des IS, Neonazis in Sachsen und anderswo, sogenannte Nafris auf der Kölner Domplatte, Linksradikale in Berlin-Kreuzberg oder auf dem G-20-Gipfel in Hamburg: All diese „angry young men“ mögen politisch zwar weit auseinanderliegen, aber sie eint das Bemühen, unterschiedliche Auswege aus einer gemeinsamen Erfahrungswelt moderner, relativistischer Sinnlosigkeit zu suchen. Allerorts scheinen vor allem junge Männer eine testosterone Trübsal zu blasen, die letztlich Orientierungslosigkeit ist, die aber bisweilen eruptiv in die renitente Aspiration umschlägt, gewaltsam zu einer Delegitimierung der herrschenden und zutiefst frustrierenden Verhältnisse beizutragen.

Früher nannte man das „halbstark“. Heute stilisieren sich hip-hop-geschädigte „Muttersöhne“ demonstrativ zu zwielichtigen „Hurensöhnen“. Dabei wird vornehmlich zertrümmert, was der herrschenden Gesellschaft besonders wichtig zu sein scheint. Eben das ist der angstbesetzte Zusammenhang halbstarker Muskelspiele zwischen Hamburg, Kreuzberg, Köln, Sachsen und Mossul, aus dem sich zugleich aber auch markante Unterschiede in der bockigen Auffassung davon ergeben, wie man den Mitgliedern der herrschenden Klasse am empfindlichsten „an die Eier“ packt: Sind es ihre dicken Autos (Hamburg), ihre unartigen Frauen (Köln), ihre scheinheilig humanistische Moral der Multikulti-Weltoffenheit (Sachsen) oder ihre degenerierte Vorstellung von Freiheit (IS)? Abgesehen davon, dass diese frustrierten jungen Männer auch spüren, dass ihr ersehntes Patriarchat verhätschelter Muttersöhne nicht mehr zu retten ist: In erster Linie wird hier ein praktischer Nihilismus exekutiert, demzufolge – nach Art einer „Umwertung der Werte“ (Friedrich Nietzsche) – das hegemoniale Wertegerüst einer degenerierten modernen Kultur von „Weicheiern“ Stück für Stück zum Einsturz gebracht werden muss.


Ich schieße, also bin ich

Während man den sogenannten Generationen X und Y vor allem deren bindungslose Selbstsucht vorgeworfen hat, so gilt mit Blick auf die derzeit nachfolgende Generation etwas ganz anderes: Der Trend geht hier ganz eindeutig zu einer neuerlich identitätsstiftenden, „objektiven“ Sinnsuche um jeden Preis, und zwar tendenziell im kämpferischen Kollektiv. Damit ist der Bogen zurückgespannt zum Relativismus der Aufklärung, der sich individuell als extrem unbefriedigend erwiesen hat, indem er zur Auflösung weltanschaulicher Gewissheiten beitrug. Auf eben diese nihilistischen Unsicherheiten reagieren politische und religiöse Fundamentalismen, die endlich wieder ein klares Feindbild und damit neue Orientierung bzw. neuen Sinn vermitteln. Diese Jugendbewegungen sehnen sich nach Klarheit, Verbindlichkeit und einer neuen Politik der Drastik, die das Gute vom Bösen scheidet – und zwar notfalls mit Gewalt. Es handelt sich um ein durch und durch phobisches Programm zur gewalttätigen Austreibung der Angst. Der auf die Sinnleere unserer Tage reagierende Extremismus, Fundamentalismus und Terrorismus ist also nicht etwa das „andere“ der Aufklärung, sondern deren Ausgeburt.

Mit Blick auf das geradezu prototypische, uns heute besonders irritierende Grauen, das derzeit der IS und seine Terroristen zunehmend auch in Europa verbreiten, kommen viele politische Kommentatoren dieser Beobachtung bereits sehr nahe, wenn sie die These vertreten, der IS sei eine Ausgeburt des imperialen Machtstrebens des Westens. Doch es ist noch etwas komplizierter: Die fundamentalistische Gewalt ist eine Reaktion auf den globalen Siegeszug der Aufklärung, der eine metaphysische Leere und orientierungslose, verunsicherte Individuen hinterlässt und damit Platz für fundamentalistischen Trotz-Terror schafft. Die oftmals ja selbst in der westlichen Welt aufgewachsenen Terroristen operieren in einer Art „Tunnelrationalität“, die im Kern nur noch die Unterscheidung zwischen Gut und Böse kennt: Böse ist die moderne Welt, in der sie sozialisiert worden sind, gut ist die Vorstellungswelt des kommenden Gottesstaates. Wenn also (vornehmlich) junge Männer, die von ihren Nachbarn als freundlich und zuvorkommend beschrieben werden, „in wenigen Wochen zu blutrünstigen Gotteskriegern werden, treibt sie kein ideologisches Motiv, sondern der Griff nach dem letzten Strohhalm. Sie wollen, dass etwas ist und nicht nichts. Oder, mit Descartes gesprochen: Ich schieße, also bin ich.“ (Thiel 2016)

Die offene Sinnfrage wird durch die Bereitschaft zur schonungslosen Selbstaufgabe im extremistischen Wir beantwortet. Dieses extremistische Wir wiederum verspricht den ultimativen Sinn des Märtyrertodes im Namen des zukünftigen Gottesstaates. Dieses Gewaltparadigma erklärt einerseits, warum sich immer mehr junge Menschen in einen imaginären oder sogar realen Heiligen Krieg einfinden – egal, ob nun in den Reihen von IS, NSU oder Antifa. Dies erklärt zum anderen, warum sich die intellektuellen Eliten derzeit so schwer damit tun, die Ideale der Aufklärung – Vernunft, Autonomie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Menschenwürde, Menschenrechte usw. – selbstbewusst gegen diese neuen und alten Fundamentalismen zu verteidigen: Viele Intellektuelle stehen eben zugleich auch selbst unter dem Bann eines hyperkritischen Relativismus, der ihnen sagt, dass diese Ideen am Ende eben doch nicht mehr universelle Gültigkeit beanspruchen dürfen als jeweils deren Gegenteil. Und es ist eben diese relativistische Skepsis, die dem Siegeszug einer neuen Politik der Drastik beinahe kampflos das Feld zu überlassen droht.

 

Literatur:

Thiel, T.: Die Vergeltung der einsamen Wölfe. In: FAZ, 03.08.2016. Abrufbar unter: http://www.faz.net (letzter Zugriff: 18.07.2017)

Weber, M.: Politik als Beruf. In: W. J. Mommsen (Hrsg.): Max Weber Gesamtausgabe, Band 17. Tübingen 1992 (1919)