„Spiel’s noch einmal, Sam“ ist auch keine Lösung

Michaela Brohm-Badry

Dr. Michaela Brohm-Badry ist Professorin für Empirische Lehr-Lern-Forschung und Didaktik sowie Dekanin des Fachbereichs Erziehungs- und Bildungswissenschaften, Philosophie und Psychologie an der Universität Trier.

Langeweile, Frustration und Reizarmut gehen Hand in Hand. Die Ursachen dafür sind zum einen in der Person selbst zu suchen. Zum anderen werden sie aber auch durch spezifische Situationen und durch das Herausforderungsniveau hervorgerufen. Entgegenwirken kann man durchgezielte Stimulation.

Printausgabe tv diskurs: 21. Jg., 1/2017 (Ausgabe 79), S. 44-49

Vollständiger Beitrag als:

Langeweile und Erfolgsdeprivation

Wer auf dem Kanapee sitzt und ziellos durch die Fernsehprogramme zappt, verschafft sich schwerlich Erfolgserlebnisse – ist also sozusagen erlebnisdepriviert. Und verpasst die Chance, vom Belohnungszentrum des Gehirns den Neurotransmitter Dopamin und Endorphine ausschütten zu lassen – diese körpereigenen Botenstoffe, die Glücksgefühle provozieren. Um genauer zu sein: Dopamin setzt Motivationsgefühle, Endorphine Opiate frei. Opium. Happy werden wir also. Rauschhaft happy: Das Gehirn wird bei Erfolgen durchflutet und der Körper gleich mit. Wir tragen also unser körpereigenes Belohnungssystem immer bei uns.

Langeweile kann als dessen Gegenteil verstanden werden, sie ist Reizarmut. Langeweile sei die negativ belastende Erfahrung, so der kanadische Psychologe John Eastwood u.a. (2012), „unfähig zu sein, sich einer befriedigenden Tätigkeit hinzugeben, obwohl man es will“. So tritt dieser Zustand meist auf, wenn wir Schwierigkeiten haben, unsere Aufmerksamkeit auf diejenigen Gefühle, Gedanken oder externale Informationen zu richten, die erforderlich wären, um aktiv zu sein. Wir fokussieren uns also nicht auf das, was zur Aktivierung nötig wäre. Darüber hinaus, so Eastwood u.a., ist dieser aversive Zustand auch dadurch gekennzeichnet, dass wir uns in der eigenen Unfähigkeit verfangen und davon überzeugt sind, dass die Umgebung für diesen unbefriedigenden Zustand verantwortlich ist, so ist z.B. „die Aufgabe langweilig“, oder es gibt „nichts zu tun!“ (vgl. ebd.).

Langeweile ist demnach Reizarmut durch mangelhafte Fokussierung der Aufmerksamkeit. Also Ziellosigkeit und Spannungslosigkeit, verbunden mit subjektiv empfundener Monotonie und entsprechend hoher Frustration (Hill/Perkins 1985). Anders als Eastwood, der die Ursachen ausschließlich im Inneren des Menschen sieht, also in der Person  (1) selbst, gehen andere Forscher davon aus, dass auch eine stimulationsarme Umgebung, also die Situation  (2), oder das Herausforderungsniveau  (3) der gerade anstehenden Aufgabe das Langeweileempfinden beeinflussen.

Aber fangen wir mit der Person (1) an: Wir wissen zwar noch nicht genau, warum, aber Männer langweilen sich eher als Frauen, junge Menschen eher als ältere, Unverheiratete eher als Verheiratete und Ärmere eher als Wohlhabende. Diese Gruppen haben die höchste Auftrittswahrscheinlichkeit von Langeweile (Chin/ Markey u.a. 2016). Sie erscheint darüber hinaus häufig im Zusammenhang mit negativen Emotionen und geht häufig mit Einsamkeit, Ärger, Traurigkeit und Sorgen einher (ebd.).

Hinsichtlich der Situation (2) tritt Langeweile eher in Kontexten auf, in denen die eigene Freiheit eingeschränkt ist (Schule, Arbeitsplatz).

Das Herausforderungsniveau (3) schließlich ist in Langeweilesituationen eher monoton, wir erfahren also eine relative Stimulationslosigkeit – oder eben das Gegenteil: sehr schwere Anforderungen, die uns resignieren lassen.

Langeweile, Anti-Flow und die Folgen

Letzteres verweist ganz klar auf den Zusammenhang zum Flow-Empfinden: Flow, dieser selbstvergessene, zeitvergessene Zustand völligen Aufgehens in einer Tätigkeit, der nach getaner Arbeit Glückshormone provoziert, kann als das Gegenteil des Langweilens verstanden werden. Schauen wir uns an, in welchen Situationen Flow-Empfinden entsteht, wird auch die Langeweile klar: Flow wächst in der optimalen Passung von Anforderungen und Fähigkeiten – nicht zu schwer – nicht zu leicht: das optimale Klavierstück zum Üben, die optimale Herausforderung bei der Arbeit, die optimal schwierige Story im Krimi: Wir verstehen, was vor sich geht, fühlen uns gefordert, kommen mit dem Klavierstück oder der Arbeitsaufgabe voran, sind von der Krimihandlung gereizt und können mit unseren geistigen Fähigkeiten herausfinden, wer der Mörder tatsächlich ist.

Geraten Anforderungen und Fähigkeiten hingegen in die Schieflage, kann das in zweierlei Richtungen verlaufen:

  • Sind die Anforderungen hoch, unsere Fähigkeiten aber gering, kommt es zur Überforderung. Im Film beispielsweise führen allzu komplexe Handlungs- oder Personenstränge zur Überforderung unseres Geistes; in Arbeitskontexten zu heftigem Stress.
  • Sind die Anforderungen gering, unsere Fähigkeiten aber hoch, sind wir unterfordert – gelangweilt. Allzu simpel sollte also der Kriminalfall auch nicht zu lösen sein, denn dann setzt die Langeweile ein: Unsere Fähigkeiten sind viel größer als die Herausforderung.

Bis in die Extreme getrieben, führt erstere Kombination in den Burn-out, die zweite in den Bore-out: Wir langweilen uns. Sehr. Beide Formen der Fehlbelastungen der Psyche haben ähnliche Folgen: Frustration, Müdigkeit, Lustlosigkeit bis hin zur Depression. Wer sich also permanent langweilt, schadet seiner Psyche. Der Volksmund weiß das schon lange: Wir langweilen uns zu Tode.

Traurige Berühmtheit erlangten hier die Untersuchungen aus den 1940er-Jahren: Der Psychoanalytiker René Spitz (1976) beobachtete die Entwicklungsverläufe von Säuglingen, die in ihren Heimbetten dadurch ruhiggestellt wurden, dass man ihnen alle Seiten des Kinderbettes durch Tücher verhängte – eine damals wohl übliche Maßnahme. So waren die Säuglinge gezwungen, den ganzen Tag über an die Decke zu schauen. Zudem hatten sie kaum Kontakt zur Pflegerin, da ein mechanischer Flaschenhalter das „Stillen“ übernahm. Diese brutale Reizarmut führte bei vielen Kindern zu einem deutlichen Mangel an Intelligenz und sozialer Bindungsfähigkeit sowie erhöhter Depressionswahrscheinlichkeit. Lang andauernde Monotonie macht krank.

Zudem stresst Langeweile, da Langeweile genauso wie Überforderung dafür sorgt, dass das Stresshormon Cortisol ausgeschüttet wird – ein deutlicher Prädiktor für Herzerkrankungen. Menschen, die in einer Studie von Britton/Shipley (2010) wiederholt angaben, sich bei der Arbeit zu langweilen, hatten ein zweieinhalbfach erhöhtes Herzinfarktrisiko. Langeweile scheint demnach rundum schlecht.

Doch ganz so eindeutig ist die Sache nicht: Evolutionsgeschichtlich könnte man gar nach dem Sinn dieses belastenden Gefühls fragen und kommt zu spannenden Antworten: Eine Arbeitsgruppe um den kalifornischen Psychologen Jonathan Schooler (2012) ließ Probanden in einem Experiment überlegen, was man mit Ziegelsteinen Ungewöhnliches anstellen könnte. Danach erledigte eine Teilgruppe anstrengende Aufgaben und die andere Teilgruppe monotone Arbeiten, bei denen das Gehirn sich langweilen musste. Nach dieser Phase ließ man alle Teilnehmer einfach erneut nach ungewöhnlichen Verwendungsmöglichkeiten von Ziegelsteinen suchen und siehe da: Diejenigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die sich in der Zwischenphase gelangweilt hatten, fanden 41% mehr Verwendungsmöglichkeiten als die nicht gelangweilte Gruppe. Vermutlich hatten deren Gehirne in der Zwischenzeit einfach weiter über die Aufgabe nachgedacht. Allem Anschein nach wird unser Gehirn kreativer, wenn wir ihm Phasen der Ruhe geben. Die schwächelnde Aufmerksamkeit scheint das Gehirn doch paradoxerweise auch gleichzeitig zu stimulieren.

Nur zu viel ist eben zu viel.

Was uns stimuliert

Und darum bleibt die Frage, was wir gegen die Langeweile tun können. Was stimuliert uns? Zentral sind:

  • geistige, soziale oder emotionale Reize: anspruchsvolle Inhalte, fremde Menschen oder Kulturen, Abenteuer, Risiken eingehen, sich selbst in neuen Situationen erproben,
  • Wertschätzung und Anerkennung durch andere: Lob, körpersprachliche Bestätigung durch Blicke und Nicken, Wahrnehmen von Fortschritten,
  • das Gefühl der Selbstbestimmung: die Wahl haben, Entscheidungen treffen, frei sein im Denken und Handeln,
  • sich selbst als wirksam zu erleben: Ziele erreicht zu haben, erfolgreich zu sein: Das kann ich schaffen! Das kann ich verstehen! Das Rätsel kann ich lösen!

Letzteres verweist darauf, wie wichtig es ist, sich Ziele zu setzen und positive Modelle für unser zielgerichtetes Handeln zu haben. Der Motivationspsychologe Albert Bandura zeigte in vielfältigen Untersuchungen, dass das Modelllernen eine der effektivsten Lernformen ist: Wenn wir einen uns sympathischen Menschen beobachten, der eine herausfordernde Aufgabe bewältigt, nehmen wir tendenziell eher an, auch selbst diese Herausforderung bewältigen zu können. Das stimuliert uns, selbst aktiv zu werden. Darum braucht jeder gute Film eine Heldin oder einen Helden – ein energetisierendes Modell.

IST-SOLL-Spannung

Wird diese Heldin oder dieser Held dann in Kontexte geworfen, die ihre Schatten vorausschicken (der Mörder wartet bereits in der Besenkammer, aber unsere Heldin weiß das noch nicht, als sie nach Hause kommt – der Zuschauer aber schon; der Widersacher lauert schon mit bösartigen Fallen im Vorzimmer, unser Held vertraut ihm aber), so wird die Aufmerksamkeit in der Zukunft fixiert.

Motivation ist also hier, wie auch in den meisten anderen Kontexten, die Spannung zwischen dem jetzigen IST und dem zukünftigen SOLL (sie muss das überleben!). Spannende Filme werfen daher immer wieder einen kurzen Blick voraus – und wir wollen immer weiter sehen, ob sich unsere Hoffnung oder Erwartung erfüllt. Der Reiz besteht darin, durch solche Vorgriffe Spannung aufzubauen; das Interesse des Zuschauers wird also permanent gereizt und auf zukünftige Ereignisse gelenkt („Wenn Sie wüssten, was Sie morgen tun werden, würde Ihnen das Blut in den Adern gefrieren!“) – und wir bangen stellvertretend mit, ob unser Modell sein Ziel an unserer statt erreicht; den Mörder kampfunfähig macht oder trotz intriganter Verstrickungen reich, berühmt und sexy wird. So machen Herausforderungen der reizarmen Langeweile den Garaus. Spannung wirft demnach zukunftsrelevante Fragen auf, deren Antworten den Menschen interessieren: Die Motivation, sich einen Film bis zum Ende anzusehen, lebt meist von der Zuschauerfrage: Klappt es? Oder klappt es nicht? Überlebt er/sie/es? Oder nicht? Kriegt sie den Mann ihrer Träume oder nicht? Ja oder nein? Das reizt uns.

Herausforderungen

Und wenn dann noch ungewöhnliche Stimuli hinzukommen, wird die Aufmerksamkeit des Zuschauers gebannt, denn nichts lähmt mehr, als das Bekannte: „Spiel’s noch einmal, Sam“ – das ist auf die Dauer auch keine Lösung. Stattdessen will unser Gehirn Herausforderungen: Fremdes, nie Gesehenes, nie Gehörtes: fremde Klänge, Farben, Strukturen, Aufgaben – Impulse, die unseren Frontallappen zur Reflexion anregen, die uns Dinge durchdringen und verstehen lassen und schließlich zur kognitiven Lösung führen – ein Erfolgserlebnis und die Opiate berauschen. Das wollen wir.

Allerdings springt unser Gehirn nur dann an, wenn die Sache einen Sinn hat: Langeweile entsteht oft aus Abwehr von Sinnlosigkeit (Brohm 2016). Hat die Handlung des Films Brüche, ist sie „sinnlos“. Empfinden wir es nicht als wichtig, was wir gerade tun, schaltet unser Gehirn in den Ruhemodus.

Nachklang

So sollten Fernsehmacher, Führungskräfte in Unternehmen, Schulen und Hochschulen auf die wirklich drängende Frage von Zuschauerinnen und Zuschauern, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Schülerinnen und Schülern sowie Studierenden Antworten haben: Warum machen wir das? Antworten, die zum großen Ganzen beitragen, sind sinnstiftend, stimulierend und daher Bore-out-prophylaktisch: Wir machen das, weil … Und für uns selbst sollten wir diese Antworten natürlich auch kennen: Was tragen wir zum großen Ganzen bei? Was könnte ich jetzt, in diesem Moment tun, um einen wirklich wichtigen Beitrag zu leisten? Keine Zeit, sich zu Tode zu langweilen. It’s a great day, to start something big!

Literatur:

Baird, B./Smallwood, J./Mrazek, M. D./Kam,J. W. Y./Franklin, M. S./Schooler, J. W.: Inspired by Distraction. Mind Wandering Facilitates Creative Incubation. In: Psychological Science, 10/2012/23, S. 1117–1122

Britton, A./Shipley M. J.: Bored to Death? In: International Journal of Epidemiology, 2/2010/39, S. 370–371

Brohm, M.: Werte, Sinn und Tugenden als Steuerungsgrößen in Organisationen. Für Fach und Führungskräfte. Wiesbaden 2016

Chin, A./Markey, A./Bhargava, S./Kassam,K. S./Loewenstein, G.: Bored in the USA: Experience Sampling and Boredom in Everyday Life. In: Emotion [online], 2016

Eastwood, J./Frischen, A./Fenske, M. J./Smilek, D.: The Unengaged Mind. Defining Boredom in Terms of Attention. In: Perspectives on Psycho logical Science, 5/2012/7, S. 482–495

Hill, A. B./Perkins, R. E.: Towards a model of boredom. In: British Journal of Psychology, 2/1985/76, S. 235–240. Abrufbar unter: http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.2044-8295.1985.tb01947.x/full (letzter Zugriff: 24.11.2016)

Spitz, R.: Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte der Mutter-Kind-Beziehungen im ersten Lebensjahr. Stuttgart 1976 (5. Aufl.))