„Pure Fantasie“

Rechtsmediziner Michael Tsokos hat sich mit den größten Irrtümern seiner TV-Kollegen befasst

Tilmann P. Gangloff

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.

Gibt es in einem Krimi Tote, lassen sich die Ermittler eigentlich immer von Rechtsmedizinern die Todesursachen erklären. Martin Tsokos, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Berliner Charité, vergleicht in seinem Buch Sind Tote immer leichenblass? die filmische Darstellung seines Berufsalltags mit der Wirklichkeit.

Online seit 24.11.2016: https://mediendiskurs.online/beitrag/pure-fantasie/

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Heutzutage gehören Rechtsmediziner zum festen Ensemble der meisten TV-Krimireihen, doch es ist noch gar nicht so lange her, da war dieser Berufsstand in Deutschland praktisch unbekannt. Mit Quincy zeigte die ARD zu Beginn der 1980er-Jahre zwar eine US-Serie, in der Jack Klugman in der Titelrolle des „Medical Examiners“ mysteriöse Todesfälle aufklärte, aber es sollten noch gut zehn Jahre vergehen, bevor ein Mann namens Joe Bausch im Tatort dafür sorgte, dass auch das deutsche Fernsehen seinen ersten populären Rechtsmediziner bekam. Seit 1997 gehört der Hobby-Schauspieler mit dem unverwechselbaren Glatzkopf zum festen Ensemble der Krimis aus Köln; im Brotberuf ist er Anstaltsarzt der Justizvollzugsanstalt im sauerländischen Werl.

Womöglich haben Bauschs markante Auftritte ihren Teil dazu beigetragen, dass man beim WDR einige Jahre später die Idee hatte, eine völlig neue Kombination auszuprobieren: Seit 2002 muss sich Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl) im Tatort aus Münster mit dem ebenso blasierten wie brillanten Professor Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) rumärgern. Die beiden Freundfeinde bilden dank einer regelmäßig gelungenen Mischung aus verzwickten Fällen und gegenseitigen Bosheiten das erfolgreichste Duo in der Tatort-Geschichte. Natürlich ahnen die meisten Zuschauer, dass ein TV-Krimi nur bedingt die Wirklichkeit wiedergibt. Wenn man aber praktisch gar nichts über einen Berufsstand weiß, füllt das Fernsehen die Lücke fast automatisch; deshalb hat Boerne das Bild des Rechtsmediziners in der Öffentlichkeit geprägt.

Mit einiger Verwunderung vergleicht Michael Tsokos, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Berliner Charité, die heutige Popularität des Berufs mit seinen beruflichen Anfangsjahren Mitte der 1990er-Jahre, als forensische Untersuchungsmethoden weder im TV-Krimi noch in der einschlägigen Literatur eine größere Rolle spielten. Sogar unter Ärzten habe das Metier, wenn überhaupt, als schlecht bezahlter „Schmuddeljob“ gegolten. Selbst die offizielle Berufsbezeichnung sei kaum geläufig gewesen; bis heute würden viele Menschen den vor 50 Jahren abgeschafften Begriff „Gerichtsmediziner“ verwenden oder die Rechtsmedizin mit der Pathologie verwechseln, einem völlig anderen Tätigkeitsgebiet. Rechtsmediziner und Pathologen, schreibt Tsokos, hätten „ungefähr genauso viel gemeinsam wie ein Frauenarzt und ein Augenarzt – nämlich ein abgeschlossenes Medizinstudium“. Ein Pathologe untersuche „ganz überwiegend“ am Mikroskop Gewebeproben, die aus dem Körper lebender Personen entnommen worden sind; in der Regel, um eine Erkrankung zu diagnostizieren oder um festzustellen, ob ein Tumor gutartig oder bösartig ist. Ein Rechtsmediziner hingegen wird in der Regel im Auftrag von Polizei und Staatsanwaltschaft tätig. Er klärt zum Beispiel, ob ein Mensch etwa durch Gewalteinwirkung oder Vergiftung zu Tode gekommen ist, berechnet den Zeitpunkt des Todes oder untersucht, ob es sich bei gefundenen Skelettteilen um menschliche oder tierische Knochen handelt. Nun hat Tsokos ein kurzweiliges Buch über die größten Irrtümer über die Darstellung seines Berufsstands geschrieben (Sind Tote immer leichenblass?, Droemer Verlag).

Rechtsmediziner sind Ermittler

Tsokos versichert, seine Kollegen und er würden niemals „auf die Idee kommen, nach Feierabend Verdächtige zu beschatten“ oder sich „nachts Zutritt zu einem Tatort zu verschaffen“. Er räumt zwar ein, dass sich Boerne aus dramaturgischen Gründen nicht allein an seinem eigentlichen Arbeitsplatz aufhalten könne, aber es sei „pure Fantasie“, dass Rechtsmediziner auch bei der Verhaftung und Vernehmung von Verdächtigen zugegen seien. Das einzige Mal, dass Tsokos ein Vernehmungszimmer betreten habe, sei in eigener Sache geschehen, als ihm sein Auto geklaut worden sei. Großen Anteil am Bild des Rechtsmediziners hätten auch US-Serien wie die verschiedenen CSI-Formate oder Criminal Minds, bei deren Hauptfiguren es sich jedoch um hochrangige Kriminalermittler mit naturwissenschaftlicher Ausbildung handele; ihre Arbeitsweise habe mit der hiesigen Realität nichts zu tun. Im Unterschied zum handelsüblichen Krimi lassen sich Todesursachen offenbar auch keineswegs immer aufklären, zumal die Leichen laut Tsokos oft in derart schlechtem Zustand seien, dass man selbst Herzinfarkte oder Hirnblutungen nicht mehr feststellen könne. Er geht dabei aber überwiegend von „Todesfälle[n] aus innerer Ursache“ aus, weil „grobe äußere Gewalteinwirkung“ in der Regel Spuren hinterlasse, die sich selbst dann noch nachweisen ließen, wenn ein Leichnam skelettiert sei.

Angehörige identifizieren die Opfer

Ein krasser Fehler, den vermutlich fast alle Autoren schon mal in ihren Krimidrehbüchern begangen haben. Tsokos nennt diesen Fauxpas den „kriminaltechnischen Super-Gau“: Bei etwa der Hälfte aller Morde handele es sich um Beziehungstaten. Häufig finde die Spurensicherung erst im Rahmen der Obduktion statt. Angehörige würden zwangsläufig DNS-Spuren, Fasern oder gar Fingerabdrücke auf dem Leichnam hinterlassen, und weil sich anschließend nicht klären lasse, ob diese Spuren schon vorher vorhanden gewesen seien, wären diese Menschen „aus dem Schneider“. Aus dem gleichen Grund sei es ein Unding, dass Unbefugte unangemeldet Zutritt zu den Sektionssälen erhielten; auch das passiert im Krimi immer wieder. Diese Räume und die angeschlossenen Labore seien das „Allerheiligste“. Ohnehin seien die postmortalen Veränderungen oft so stark, dass eine Identifizierung anhand der Gesichtszüge kaum noch möglich sei, weshalb dies meist anhand unveränderlicher Kennzeichen wie Operationsnarben und Tätowierungen oder „implantiertem Fremdmaterial“ wie Herzschrittmachern oder Hüftprothesen geschehe. Viel öfter als mit Toten hätten es die Rechtsmediziner jedoch mit Überlebenden zu tun, beispielsweise Opfern von Gewaltverbrechen oder Sexualdelikten. Ein wichtiges Detail sei dabei die Frage, ob eine Verletzung etwa durch einen Faustschlag oder einen Schlagring verursacht worden sei, denn die entsprechende Antwort entscheide darüber, ob eine Anklage auf einfache oder schwere Körperverletzung hinauslaufe.

Der Tod als Schlafes Bruder

Wenn sie nicht gerade durch Gewalteinwirkungen entstellt sind, sehen Tote im Film meist wie leichenblasse Schlafende aus. Die Veränderungen, die die sterblichen Überreste durchlaufen, werden den Zuschauern freundlicherweise erspart: Fäulnis- und Gasbildungen sorgen laut Tsokos dafür, dass sich die Haut bläulich-violett verfärbt und Leichenflecken bildet. Diese Flecken seien auch ein Grund dafür, warum sich Sektionssäle keineswegs – wie viele Filme nahelegen – im Keller befänden: Kunstlicht verfremde die Verfärbungen, die auch Aufschluss über eine Todesursache geben können. Und während die Leichen im Krimi gern tagelang auf Obduktionstischen herumliegen, werden sie in der Regel unmittelbar nach der zwei- bis dreistündigen Obduktion zur Bestattung freigegeben. Ins Reich der Fabel gehöre auch die verbreitete Überzeugung, Haare und Fingernägel wüchsen nach dem Tod weiter. Dieses „Scheinphänomen“ entstehe, weil die Haut und somit auch die Fingerkuppen nach dem Tod austrockneten und daher schrumpften; das führe dazu, dass Bartstoppeln und Fingernägel stärker hervorträten.

Serienmörder in Serie

Die spannendsten Krimis sind in der Regel jene, in denen die Ermittler einen Serienmörder suchen. Spätestens seit der Verfilmung des Romans Das Schweigen der Lämmer (1991) bilden diese Thriller ein eigenes Subgenre. Nach Einschätzung von Kriminalisten treiben in Deutschland derzeit bis zu zehn Serienmörder ihr Unwesen. Bei diesen Tätern handelt es sich nach Tsokos’ Erkenntnissen aber keineswegs um brillante Superhirne. Die Intelligenz und Nervenstärke dieser Menschen werde im Allgemeinen ebenso überschätzt wie ihre Anzahl, auch wenn der Rechtsmediziner die Autoren in Schutz nimmt: Es sei dramaturgisch natürlich interessanter, „wenn man es nicht mit einem Blödmann zu tun hat“, der seiner Verhaftung nur durch pures Glück entgehe. Er selbst hatte in seiner gut 20-jährigen Laufbahn erst zwei Fälle, bei denen ein Serienmörder tatsächlich eine „Signatur“ auf seinen Opfern hinterlassen hat.

Rechtsmediziner sind schräge Vögel

Ein besonderes Anliegen ist es Tsokos, das Image seiner Zunft zu korrigieren. Tatsächlich sind viele Rechtsmediziner im Fernsehen schräge Vögel, die ihr Dasein als Nebenfigur durch wunderliches Verhalten kompensieren. Er räumt zwar ein, dass einige seiner Kollegen in der Tat „etwas spezielle Zeitgenossen“ seien, die auch die eine oder andere Marotte hätten, aber er kenne niemanden, der den oftmals „chronisch schlecht gelaunten Zynikern“ aus dem Fernsehen ähnele. Rechtsmediziner seien „absolut lebensfrohe und fröhliche Menschen“, die sich anders als in Das Schweigen der Lämmer auch keine Mentholpaste unter die Nase schmierten, um sich vor dem Fäulnisgeruch zu schützen. Nach 30.000 Obduktionen hätte Tsokos dort mittlerweile wahrscheinlich keine Haut mehr. Außerdem sei der Geruchssinn bei der Obduktion wichtig, weil verschiedene Gerüche auf unterschiedliche Todesursachen schließen ließen.

Zwei Finger am Hals

Bei allem Verständnis für die Notwendigkeit von Filmemachern, Vorgänge zu vereinfachen: Auf dieses Detail reagiert Tsokos allergisch. In beinahe jedem Krimi gibt es eine Szene, in der ein Polizist mit zwei Fingern an der Halsschlagader eines Opfers überprüft, ob der Mensch noch lebt oder ob jede Hilfe zu spät kommt. In der Realität sei die Todesfeststellung „dann doch wesentlich komplexer“. Atemstillstand, Pulslosigkeit oder weite Pupillen seien unsichere Todeszeichen, die auch die Folge von Stromschlägen, Vergiftungen oder Unterkühlung sein könnten; die Menschen wären dann nur scheintot. Mediziner verließen sich allein auf sichere Todeszeichen wie Leichenflecken, Leichenstarre oder Fäulnis.

 

Tsokos’ bekannteste TV-Kollegen tummeln sich vor allem in US-Importen wie den CSI-Formaten, Medical Detectives, Bones – Die Knochenjägerin, Crossing JordanPathologin mit Profil oder Criminal Minds. Deutsche Produktionen waren unter anderem der Klassiker Der letzte Zeuge mit Ulrich Mühe (1998-2007, ZDF) sowie die RTL-Serien Die Gerichtsmedizinerin mit Lisa Fitz (2005-2008) und Post Mortem – Beweise sind unsterblich mit Hannes Jaenicke (2007-2008). Bekanntester deutscher TV-Rechtsmediziner ist seit 2002 Professor Friedrich-Karl Boerne (Jan Josef Liefers) im Tatort aus Münster. In unregelmäßigen Abständen zeigt RTL zudem die Dokumentationsreihe Anwälte der Toten (seit 1997).

Michael Tsokos, Jahrgang 1967, ist Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Berliner Charité und Freizeitautor mehrerer „True Crime“-Thriller. Sein Sachbuch Sind Tote immer leichenblass? ist im Droemer-Verlag erschienen.