Pornografie

Hypothesen und Fakten zu möglichen Auswirkungen auf die psychosexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen

Alexander Korte

Dr. med. Alexander Korte, M.A., ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am LMU-Klinikum München.

Mit der flächendeckenden Verbreitung des Internets hat eine dramatische Veränderung sowohl im Hinblick auf die Zugriffsmöglichkeiten auf pornografisches Material als auch hinsichtlich der Menge und Ausdifferenziertheit der angebotenen Inhalte stattgefunden. Noch nie hatten Kinder und Jugendliche derart früh und einfach Zugang zu Pornografie unterschiedlichster Art wie heute. Dies hat zu einer seit Jahren ausgetragenen Diskussion über eine mögliche Entwicklungsgefährdung von Minderjährigen geführt. Ziel dieser Kurzübersicht ist es, zu einer Versachlichung der sehr kontrovers und in Ermangelung ausreichender Sachkenntnis oft einseitig geführten Problemdebatte beizutragen

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 4/2020 (Ausgabe 94), S. 65-69

Vollständiger Beitrag als:

 

Das Thema „Pornografie“ polarisiert: Die konträren wissenschaftlichen Positionen ebenso wie die populären Beurteilungen in der Diskussion über Auswirkungen von pornografischen Medieninhalten, insbesondere dem im Internet vorgehaltenen Angebot, das auch Formen von Gewalt-, Devianz- und Delinquenz-Pornografie umfasst, oszillieren zwischen zwei Extremen (Hill 2011; Döring 2011; Korte u.a. 2016; Korte 2018). Die öffentlichen Verlautbarungen reichen von eindringlichen, teils katastrophisierenden Warnungen vor einer vermeintlich gravierenden Kindeswohlgefährdung bzw. unausweichlichen Störung der psychosexuellen Entwicklung mit nachhaltiger Beeinträchtigung der Intimbeziehungen von Heranwachsenden und angeblicher sexueller Verrohung einer ganzen Generation über Relativierung oder abwiegelnd-banalisierende Beschwichtigungen bis hin zu leichtfertiger Verharmlosung und pauschalen Unbedenklichkeitserklärungen, inklusive idealisierender Verklärung von Pornografie, wonach Pornokonsum positiv zur Entwicklung liberalerer, sexualitätsbezogener Einstellungen und zum Abbau von Tabus beitragen könne.

Im Zuge des anhaltenden „Erregungsdiskurses“ über Internetpornografie und die vermeintlich „sexuell verwahrloste“ „Generation Porno“ sind mehrere Punkte von Interesse, denen in der Forschung bislang mit erstaunlich unterschiedlichem wissenschaftlichem Anspruch auf Vollständigkeit, Differenziertheit und abschließende Klärung nachgegangen wurde. Es geht um die Fragen,

  • ab welchem Alter heutzutage Kinder und Jugendliche mehrheitlich mit pornografischen Inhalten im Netz (unfreiwillig) in Berührung kommen und/oder wie häufig sie diese selbst gezielt abrufen sowie aus welchen Motiven und zu welchem Zwecke dies geschieht;
  • welcher Art die Pornografieinhalte sind, welche emotionalen Reaktionen, Bedeutungszuschreibungen und Bewertungen sie aufseiten der minderjährigen Rezipienten auslösen, wobei auch geschlechtstypische Unterschiede von Interesse sind;
  • welche Kurz- und Langzeitwirkungen die Konfrontation mit dem pornografischen Material haben könnte und welche möglichen Folgen sich daraus für Kinder bzw. Jugendliche und die (spätere) Paarsexualität ergeben – vielleicht die wichtigsten Aspekte der Diskussion.
     

Datenlage zur Verbreitung, zum Alter bei Erstkontakt und zu Nutzungsgewohnheiten

Sexualität ist das zentrale Thema der Adoleszenz – entwicklungspsychologisch bedingt und infolge der pubertätsbedingten körperlichen Reifungsvorgänge. Da wundert es nicht, dass Jugendliche ein besonderes Interesse an Darstellungen sexueller Interaktionen als „Anschauungsmaterialien“ haben. Eine mittlerweile kaum noch überschaubare Reihe vorrangig nach 2005 publizierter Untersuchungen (Überblick: Peter/Valkenburg 2016; Korte 2018) belegt, dass Kinder und Jugendliche gezielt im Netz nach sexuellen Darstellungen suchen, teilweise aber auch mit Pornografie ungewollt konfrontiert werden. Ein Problem der Vergleichbarkeit diskrepanter Studienergebnisse ergibt sich dabei aus der uneinheitlichen Definition von Pornografie; erfasst wird stets, was unter das je unterschiedliche Verständnis von Pornografie der jeweils adressierten Zielgruppe fällt. Dennoch ist durch die vorliegenden Daten belegt: Etwa die Hälfte der Jungen hatte – gewollt oder ungewollt – bis zum Alter von 14 Jahren bereits Kontakt zu Pornografie, vielfach bereits vor dem 10. Lebensjahr, weshalb das durchschnittliche Alter bei Erstexposition beim männlichen Geschlecht noch vor Beginn des Jugendalters liegt; bei den Mädchen hat bis zum 14. Geburtstag ca. ein Drittel Erfahrung mit Pornografie. Mit fortschreitendem Alter nähern sich die Zahlen eines erfolgten Kontakts mit (Internet‑)Pornografie zumindest bei männlichen Jugendlichen den 100 % an.
 

Eklatante Unterschiede zwischen den Geschlechtern zeigen sich in der Häufigkeit der Nutzung, die bei Jungen wesentlich höher ist.


Insbesondere Intensivnutzer finden sich nach Resultaten mehrerer Studien fast ausschließlich unter männlichen Jugendlichen (Peter/Valkenburg 2006; Luder u.a. 2011). Hinsichtlich der Art der Pornografie, die von Jugendlichen konsumiert wird, und der von ihnen getroffenen Auswahl ist die Datenlage dünner; dies gilt ebenso für die emotionalen Reaktionen und Bewertungen. Hinweise lieferte eine Studie von Pro Familia, in die Kinder ab 11 und Jugendliche bis 18 Jahren eingeschlossen wurden. Den Ergebnissen zufolge schaut die überwiegende Mehrheit pornografische Videoclips, deren Inhalte als „Soft(‑porno)“ oder als „mittel“ kategorisiert wurden; eine Minderheit von immerhin 16 % gab jedoch an, auch mit sogenannter „harter Pornografie“ (d.h. Gewaltpornografie, paraphile Themen wie Missbrauch von Kindern, Sodomie, Nekrophilie) in Berührung gekommen zu sein. Aktiv und gezielt aufgesucht wurden in der Regel erotische Darstellungen nackter Körper und „normalen“ Geschlechtsverkehrs („soft“); die Reaktionen darauf wurden überwiegend als positiv (Erregung, Informationsgewinn), von 20 % hingegen als negativ (Ekel, Angst, Scham, Wut) beschrieben, wobei Negativbewertungen häufiger – erstens – bei jüngeren Befragten und – zweitens – bei den teilnehmenden Mädchen vorgenommen wurden. Mit zunehmendem Alter nahmen bei beiden Geschlechtern die positiven Reaktionen zu, die negativen ab. Gewalttätige und paraphile Sexualität wurde fast unisono und unabhängig vom Alter der Befragten abgelehnt; die überwiegenden Reaktionen waren Angst und Ekel – wobei immerhin auch 3 % der Jungen angaben, durch „harte“ Pornografie sexuell erregt worden zu seien (Altstötter-Gleich 2006).
 

Der Genderaspekt – differente Nutzungsmotive und ‑häufigkeit bei Jungen und Mädchen

In der Bravo-Dr.-Sommer-Studie (2009; N = 1.228) mit 11- bis 17‑Jährigen berichteten 56 % der Jungen, auf pornografische Darstellungen mit sexueller Erregung zu reagieren und diese zur Masturbation zu nutzen, während 46 % der Mädchen aversive Reaktionen äußerten. Auch in einer Untersuchung mit isländischen Teenagern beiderlei Geschlechts (N = 323; 14 bis 18 Jahre) gaben Jungen signifikant häufiger als Mädchen an, Pornografie bringe ihnen Spaß (65 % versus 23 %), sei sexuell erregend (78 % versus 39 %) und stelle zudem eine wichtige Informations- (38 % versus 23 %) und Inspirationsquelle (51 % versus 21 %) dar. Mädchen hingegen fanden Pornografie häufiger abstoßend als Jungen (37 % versus 14 %). Ein knappes Drittel der Mädchen meinte, dass Pornografie zu sexueller Aggression führen könne; diese Befürchtung äußerten nur 14 % der befragten Jungen. Umgekehrt glaubten 7 % der Jungen und lediglich 3 % der Mädchen, dass der Zugang zu pornografischen Filmen einen protektiven Effekt hinsichtlich Vergewaltigungen habe (Kolbein 2007).

Dieser wiederkehrend gefundene ausgeprägte Gendereffekt bei der Pornografienutzung wird jedoch selten hinreichend erklärt. Mädchen konsumieren sehr wohl auch Pornografie, allerdings nicht annähernd im gleichen Umfang wie Jungen. Und größtenteils aus anderen Motiven: Sie nutzen Pornos primär als Quelle von Informationen über sexuelle Praktiken. Bisweilen schauen sie Pornos gemeinsam mit anderen in der Gruppe oder mit ihrem Freund; anders als die Jungen nutzen sie diese jedoch höchst selten zur Masturbation. Woher dieser Unterschied?
 

Üblicherweise wird davon ausgegangen, dass weibliche Sexualität sehr viel mehr angewiesen ist auf den Beziehungskontext, also wesentlich enger an das Vorhandensein einer bestehenden emotionalen Verbundenheit geknüpft ist. Daraus ließe sich auch die geringere Ansprechbarkeit von Mädchen auf Pornografie ableiten, ist doch deren Hauptkennzeichen die programmatische Beziehungslosigkeit.


Erotische Stimulation und sexuelle Erregung sind bei Frauen/Mädchen überdies weit weniger gekoppelt an optische Schlüsselreize, also nicht annähernd vergleichbar über visuelle Reize getriggert wie bei Männern. Vielmehr scheint für das sinnlich-sexuelle Erleben der Frau typischerweise auch anderen Sinnesmodalitäten eine wichtige Rolle zuzufallen. Zu erwähnen sind allerdings experimentelle Untersuchungen, welche mittels Bestimmung der vaginalen Lubrifikation nachweisen konnten, dass die Darbietung sexueller Stimuli in Form erotischen Bildmaterials sehr wohl auch bei den Studienteilnehmerinnen messbare psycho-physiologische Körperreaktionen hervorzurufen in der Lage ist; diese werden jedoch interessanterweise von den Betroffenen nicht notwendigerweise als bewusste sexuelle Erregung wahrgenommen. Das zeigt zum einen, dass der Vorgang der sexuellen Lust auf komplexen, durch Sexualhormone modulierten Steuerungsmechanismen von hypothalamischen, limbischen und neokortikalen Hirnregionen beruht, auf den auch inhibitorische Einflüsse seitens des Großhirns Einfluss nehmen; zum anderen wirft dies Fragen auf, inwiefern (maßgeblich) auch kulturelle Einflüsse in Form tradierter Rollenmodelle mit entsprechenden Erwartungszwängen und erziehungsbedingten Hemmungen verantwortlich für die geringere Ansprechbarkeit des weiblichen Geschlechts auf Pornografie sein könnten.
 

Auswirkungen von Pornografie auf Minderjährige – Hypothesen, Mythen, Fakten

Annahmen bezüglich der erwarteten kurz- und langfristigen Effekte bzw. Negativfolgen von Pornografienutzung basieren vorrangig auf den zentralen lerntheoretischen Paradigmen der Verstärkung von Verhalten durch klassische und operante Konditionierung, der Theorie der Exemplifikation und Nachahmung dargestellter Praktiken, Einstellungen und Verhaltensweisen (Lernen am Modell) sowie des sozialen Vergleichs. Entsprechende Hypothesen sind Gegenstand einer Reihe von Studien, die nach korrelativen Zusammenhängen suchen. Mögliche Effekte können auf verschiedenen Ebenen untersucht werden:

  • auf der Ebene der Überzeugungen, persönlichen Werte und Einstellungen zur Sexualität, die sich beispielsweise auf Fragen zu unverbindlichen Sexualkontakten beziehen;
  • auf der Wahrnehmungsebene, z.B. der empfundenen Realitätsnähe pornografischer Skripte, inklusive der darin enthaltenen Geschlechterrollen-Stereotypien, sowie der subjektiven Reaktion auf die dort vorgehaltenen Schönheits- und Leistungsideale;
  • auf der sexualitätsbezogenen Verhaltensebene, bezogen auf sexuelle Gewohnheiten (z.B. Praktiken) ebenso wie auf riskantes Sexualverhalten und Umgang mit Sexpartnern.

Befürchtet wird, dass Minderjährige die Realitätsferne pornotypischer sexueller Skripte nicht richtig einschätzen können, sie sich unreflektiert an den dort gezeigten Verhaltensmustern bzw. sexistischen Einstellungen orientieren und dass Pornografie im Internet (und anderen Medien) ihnen unhinterfragt als Modell für tradierte stereotype Geschlechtsrollenbilder und die eigene Beziehungsgestaltung dienen könnte. Unbestritten ist diese Kultivierungsthese allerdings nicht: Neben repräsentativen Querschnitts- (Peter/Valkenburg 2007; Braun-Courville/Rojas 2009) und Longitudinalstudien (Peter/Valkenburg 2009), die einen korrelativen Zusammenhang zwischen (Ausmaß der) Pornografieexposition und freizügigen, teils problematischen sexuellen Einstellungen nahelegen, gibt es auch Untersuchungen, deren Ergebnisse keinerlei Hinweise erbrachten, dass Werte und Normen, die in Pornografie vermittelt werden, von Jugendlichen kritiklos übernommen würden oder dass die inszenierten Klischees ihnen als Rollenmodell dienten (Popanda 2009; Angermann 2009).

Überdies wird immer wieder warnend darauf hingewiesen, dass Jugendliche, die bereits sexuell aktiv sind, sich durch Vergleich mit pornotypischen Skripten, Darstellerinnen und Darstellern (in der Regel jung, attraktiv, potent) selbst unter sexuellen Leistungsdruck setzen und entsprechende Versagensängste bzw. Minderwertigkeitsgefühle entwickeln könnten – ist doch der Sex in der Mainstream-Pornografie oftmals ein Bereich der Superlative, bei dem (meist) makellose, allzeit bereite Körper aufeinandertreffen und sich stundenlang bei multiplen „Feuerwerksorgasmen“ vergnügen.
 

Ohne Frage ist Pornografie dann problematisch, wenn sie Leistungsdruck aufseiten der Nutzer erzeugt. Oder wenn sie Irritationen bezüglich des Körperselbstbildes respektive der eigenen Attraktivität nach sich zieht; besonders in einem Alter, in dem der eigene Körper ohnehin meist kritisch betrachtet wird.


Tatsächlich äußerten in mehreren Interviewstudien 20‑30 % der Befragten Befürchtungen hinsichtlich einer negativen Beeinflussung des Sexuallebens durch Pornokonsum. Insbesondere Mädchen berichten über Verunsicherungen infolge unrealistischer Vergleichsmaßstäbe bezogen auf ihr Äußeres (Kolbein 2007; Mattebo u.a. 2012). Es ist davon auszugehen, dass die neue Sichtbarkeit des äußeren weiblichen Genitals zu einer Schönheitsnorm und in der Folge zu einer Zunahme von Operationen zur Schamlippenverkleinerung geführt hat, auch bereits bei Minderjährigen.

Diffiziler und weitaus komplexer ist die Datenlage zum Zusammenhang zwischen Pornografiekonsum und dem sexuellen Verhalten von Jugendlichen (Überblick: Korte 2018). Nachweisbar war eine Korrelation von regelmäßigem Konsum pornografischer Darstellungen bestimmter Sexualpraktiken und ihrer vermehrten Ausführung bzw. dem Wunsch danach (Popanda 2009). Sowohl Querschnittserhebungen als auch Longitudinalstudien lieferten zudem Hinweise, dass die Nutzung von Pornografie durch Jugendliche, insbesondere, wenn sie sehr häufig stattfindet, assoziiert ist mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für frühzeitige Sexualkontakte. Doch die Mehrzahl der Jugendlichen hatte, ungeachtet ihrer in der Regel beträchtlichen Erfahrungen mit Pornografie, dennoch keinen Geschlechtsverkehr; auch werden unverbindliche, zufällige sexuelle Begegnungen von Jugendlichen heutzutage mehrheitlich abgelehnt. Trotz der allgegenwärtigen Medienpräsenz des Pornografischen ist aktuell unter Jugendlichen im Vergleich zu früheren Generationen das Vorherrschen einer eher konservativeren Sexualmoral mit Rückbesinnung auf traditionelle Werte wie Treue in der Partnerschaft zu verzeichnen (vgl. Ergebnisse der Wiederholungsbefragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung [BZgA]).
 

Allgemein könnte die Liberalisierung des Umgangs mit Pornografie auch positive Effekte haben, z.B., dass der gesellschaftliche Umgang mit Sexualität befreiter vonstattengeht.


Das gemeinsame Anschauen von Pornos könnte es (nicht nur) Heranwachsenden erleichtern, über sexuelle Wünsche zu sprechen – obgleich bezüglich Letzterem Skepsis angebracht ist, denn Mainstream-Pornografie überzeugt ja nicht unbedingt durch intelligente Dialoge, Empathie, wechselseitige Rücksichtnahme und echte Partnerbezogenheit; sie taugt damit wohl nur bedingt als Modell für gute Kommunikation. Pornokonsum ist aber in gewisser Weise immer auch eine Art „virtuelles Probehandeln“, insofern der Rezipient sich mit den Protagonisten identifiziert. Besonders für Angehörige sexueller Minderheiten kann dies bei Schwierigkeiten der Akzeptanz der eigenen sexuellen Vorlieben oder Orientierung zur Stärkung der eigenen sexuellen Identität beitragen und durchaus hilfreich sein bei der Entwicklung eines konsistenten Konzepts des eigenen Selbst.

In einer auf Selbstauskünften beruhenden Längsschnittuntersuchung an jungen Erwachsenen beiderlei Geschlechts (N = 600), die ausführlich zu ihrem Sexualleben befragt wurden, wurden keinerlei Anhaltspunkte dafür gefunden, dass der – rückblickend erhobene – Pornokonsum im Alter von 14 Jahren spätere Einstellungen und Verhaltensweisen beeinflusst hat oder zu einer Beeinträchtigung der Intimität, sexuellen Erlebnisfähigkeit und Zufriedenheit in der Partnerschaft führte; auch wurde in der retrospektiven Analyse kein Zusammenhang zwischen der Häufigkeit des früheren Pornokonsums und dem Grad der Übereinstimmung der individuellen, als „Verhaltensdrehbücher“ fungierenden sexuellen Skripte und Vorstellungen über den „besten Sex“ mit dem pornotypischen Skript gefunden (Štulhofer u.a. 2009).

Ein Großteil der befürchteten Negativfolgen von „normaler“, d.h. gewaltfreier Pornografie auf Jugendliche hat sich unterm Strich also ebenso wenig konsistent nachweisen lassen wie langfristige Negativauswirkungen auf das spätere sexuelle und Beziehungserleben. Insbesondere an Studien, die potenzielle Effekte auf der Verhaltensebene untersuchen, ist methodisch zu kritisieren, dass die Ergebnisse oftmals grob fahrlässig einseitig, im Sinne unidirektionaler Kausalitätszuschreibungen missinterpretiert wurden – ohne zu reflektieren, was hier „Henne und Ei“ ist. Dennoch scheint aus entwicklungspsychologischer Sicht eine ungleich größere Beeinflussbarkeit besonders junger Kinder durch pornografietypische Klischees und Geschlechterrollenmodelle durchaus denkbar. Vor allem aber gibt es rational begründbare Sorgen hinsichtlich deren möglicherweise im Vergleich zu Jugendlichen weit größeren Sensitivität gegenüber der Darstellung gewaltpornografischer Inszenierungen und abweichender Sexualitäten. Die Frage nach einer potenziellen Negativbeeinflussung bedarf also einer differenzierten Betrachtung in doppelter Hinsicht: Erstens spielt das Alter bzw. der Entwicklungsstand der Konsumenten eine Rolle und zweitens die Art der Pornos. Leider wird dieser notwendigen Differenzierung in den allermeisten Studien nicht Rechnung getragen.
 

Gewalt-, Devianz-, Delinquenz-Pornografie – Plädoyer für differenzierte Risikobeurteilung

Heutzutage ist es jedem halbwegs versierten Internetnutzer ohne eine real umsetzbare Altersbeschränkung problemlos möglich, sich innerhalb weniger Sekunden in sämtlich vorstellbare sexuelle Fantasiewelten zu klicken. Dazu gehören auch Paraphilien bzw. Inszenierungen sexueller Interaktionen mit nicht menschlichen Objekten, Praktiken in Verbindung mit Körperexkrementen (Urin, Kot, Sperma), Leiden oder Demütigung (BDSM, d.h. Zufügen von Schmerz, Selbsterniedrigung oder Erniedrigung der Partnerin/des Partners) und weitere als normabweichend wahrgenommene Formen von Sexualität bzw. Darstellungsweisen (Devianz-Pornografie). Selbiges gilt für inszenierte Vergewaltigungsszenen, erzwungene sexuelle (Missbrauchs‑)Handlungen in macht-asymmetrischen Konstellationen, an Kindern und anderen nicht einwilligungsfähigen Personen (Behinderten, Betäubten), die nicht einvernehmlich erfolgen und somit per se einen Straftatbestand erfüllen (Delinquenz-Pornografie).

Aus experimentellen, an Erwachsenen durchgeführten Untersuchungen ist bekannt, dass sexuelle Erregung beim Sehen eines pornografischen Gewaltfilms nachweislich dessen Einfluss auf reales gewalttätiges Verhalten in nachgeschalteten Situationen verstärken kann („Erregungstransfer“). Demnach muss davon ausgegangen werden, dass zumindest bei einer Subgruppe vulnerabler Jugendlicher die Rezeption gewaltpornografischer Darstellungen die Hemmschwelle für die Umsetzung aggressiver Sexualfantasien und das Ausleben von grenzüberschreitendem sexuellem Verhalten herabgesetzt werden kann, wofür es bereits korrelative Hinweise gibt (Priebe u.a. 2007; Ybarra u.a. 2011). Weitgehend unbekannt (und aus ethischen und rechtlichen Gründen auch zukünftig kaum erforschbar) ist, ob es durch eine frühzeitige und wiederholte Konfrontation mit gewalthaltiger Pornografie oder solcher mit Darstellungen devianter (paraphiler) Sexualpraktiken, die von Minderjährigen im Zustand sexueller Erregung rezipiert wird – sei es unbeabsichtigt oder gewollt, d.h. gezielt aufgesucht –, zu einer dauerhaften Modifikation neuronaler/psychischer Strukturen und so zu einer möglichen Fixierung sexueller Devianz kommen könnte; denkbar wäre ein prägender Einfluss auf die Entwicklung intrapsychischer sexueller Skripte mit Ausbildung einer Präferenzstörung am ehesten bei emotional deprivierten Kindern.

Wann besteht definitiv ein Handlungs- und gegebenenfalls auch therapeutischer Interventionsbedarf?
 

Grundsätzlich stellt Pornografie dann ein Problem dar, wenn sie einen Normierungs- oder Leistungsdruck nach sich zieht, wenn sie als dauerhafter Ersatz für reale zwischenmenschliche Sexualität verwendet wird oder der Konsum so dominiert, dass Verdacht der Verhaltenssucht (mit massiver Vernachlässigung anderer Lebensbereiche) aufkommt.


In diesem Falle bedarf es, vergleichbar anderen Formen des pathologischen Mediengebrauchs, frühzeitig konkreter psychotherapeutischer Hilfsangebote. Alarmierend ist ferner ein exzessiver Konsum gewaltpornografischen Materials; hier sind gezielte präventive Ansätze zur Vorbeugung eigenen sexuell übergriffigen und aggressiven Verhaltens wichtig, die sich auf eine Verbesserung des Einfühlungsvermögens und der Fähigkeit zum Perspektivwechsel fokussieren.
 

Literatur:

Altstötter-Gleich, C.: Pornographie und neue Medien. Eine Studie zum Umgang Jugendlicher mit sexuellen Inhalten im Internet. Mainz [Pro Familia Landesverband] 2006

Angermann, T.: Sexuelle Sozialisation im Jugendalter – Jugendliche Konsumenten pornographischer Inhalte im World Wide Web. Diplomarbeit am Institut für Soziologie der Universität Leipzig 2009

Braun-Courville, D. K./Rojas, M.: Exposure to Sexually Explicit Web Sites and Adolescent Sexual Attitudes and Behaviors. In: Journal of Adolescent Health, 2/2009/45, S. 156‑162

Bravo-Dr.-Sommer-Studie: Liebe! Körper! Sexualität! München 2009

Döring, N.: Der aktuelle Diskussionsstand zur Pornografie-Ethik: Von Anti-Porno- und Anti-Zensur- zu Pro-Porno-Positionen. In: Zeitschrift für Sexualforschung, 1/2011/24, S. 1‑30

Hill, A.: Pornografiekonsum bei Jugendlichen. Ein Überblick über die empirische Wirkungsforschung. In: Zeitschrift für Sexualforschung, 4/2011/24, S. 379‑396

Kolbein, H. G.: Exposed – Icelandic teenagers’ exposure to pornography. In: S. V. Knudsen/L. Löfgren-Mårtenson/S.-A. Månsson (Hrsg.): Generation P? Youth, Gender and Pornography. Kopenhagen 2007, S. 103‑117

Korte, A.: Pornografie und psychosexuelle Entwicklung im gesellschaftlichen Kontext. Psychoanalytische, kultur- und sexualwissenschaftliche Überlegungen zum anhaltenden Erregungsdiskurs. Gießen 2018

Korte, A./Kuhle, L./Nagel, M./Beier, K. M.: Auswirkungen von Internet-Pornografie auf die psychosexuelle Entwicklung in Kindheit und Adoleszenz. Ein Beitrag zum anhaltenden Erregungsdiskurs. In: Pädiatrische Praxis, 2/2016/86, S. 359‑370

Luder, M.-T./Pittet, I./Berchtold, A./Akré, C./Michaud, P.-A./Suris, J.-C.: Associations between online pornography and sexual behavior among adolescents: myth or reality? In: Archives of Sexual Behavior, 5/2011/40, S. 1027‑1035

Mattebo, M./Larsson, M./Tydén, T./Olsson, T./Häggström-Nordin, E.: Hercules and Barbie? Reflections on the influence of pornography and its spread in the media and society in groups of adolescents in Sweden. In: The European Journal of Contraception and Reproductive Health Care, 1/2012/17, S. 40‑49

Peter, J./Valkenburg, P. M.:Adolescents’ exposure to sexually explicit online material and recreational attitudes toward sex. In: Journal of Communication, 4/2006/56, S. 639‑660

Peter, J./Valkenburg, P. M.: Adolescents’ exposure to a sexualized media environment and their notions of women as sex objects. In: Sex Roles, 5/2007/56, S. 381‑395

Peter, J./Valkenburg, P. M.: Adolescents’ Exposure to Sexually Explicit Internet Material and Sexual Satisfaction. A Longitudinal Study. In: Human Communication Research, 2/2009/35, S. 171‑194

Peter, J./Valkenburg, P. M.: Adolescents and Pornography: A Review of 20 Years of Research. In: The Journal of Sex Research, 4‑5/2016/53, S. 509‑531

Popanda, D.: Pornografiekonsum unter männlichen Jugendlichen und dessen Einfluss auf Wahrnehmung, Einstellung und Verhalten. Diplomarbeit am Institut für Soziologie der Universität Leipzig 2009

Priebe, G./Akermann, I./Svedin, C. G.: High-Frequency Consumers of Pornography. A Swedish Study. In: V. Knudsen/L. Löfgren-Mårtenson/ S.-A. Månsson (Hrsg.): Generation P? Youth, Gender and Pornography. Kopenhagen 2007, S. 133‑148

Štulhofer, A./Schmidt, G./Landripet, I.: Pornografiekonsum in Pubertät und Adoleszenz. Gibt es Auswirkungen auf sexuelle Skripte, sexuelle Zufriedenheit und Intimität im jungen Erwachsenenalter? In: Zeitschrift für Sexualforschung, 1/2009/22, S. 13‑23

Ybarra, M. L./Mitchell, K. J./Hamburger, M./Diener-West, M./Leaf, P. J.: X-rated material and perpetration of sexually aggressive behavior among children and adolescents: is there a link? In: Aggressive Behavior, 1/2011/37, S. 1‑18