Nur keine Überraschungen, auch nicht zu Weihnachten!

Oder: Das Elend des neuen Radios

Gerd Hallenberger

Dr. habil. Gerd Hallenberger ist freiberuflicher Medienwissenschaftler.

Wer heute einen Radiosender einschaltet, der Popmusik bringt, hat sehr oft den Eindruck „das kenne ich doch“ – und findet das gut. Wer vor 50 Jahren einen Radiosender eingeschaltet hat, der Popmusik brachte, hatte oft den Eindruck „das kenne ich ja gar nicht“ – und fand genau das gut. Was ist in diesen 50 Jahren passiert, mit dem Radio, der Popmusik und dem ganzen Drumherum?

Online seit 21.12.2017: https://mediendiskurs.online/beitrag/nur-keine-ueberraschungen-auch-nicht-zu-weihnachten/

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Fernsehnutzung strukturiert Lebenszeit, das ist ein alter Hut. Wenn die Tagesschau kommt, ist es 20.00 Uhr, und dass es Sonntag ist, merkt man spätestens am neuen Tatort nach der Tagesschau. Wem der bevorstehende Jahreswechsel entgangen sein sollte, den erinnern unzählige Wiederholungen von Dinner for One daran, dass jetzt aber wirklich Silvester ist. Was das Fernsehen kann, kann auch das Radio. Wann ist Weihnachten? Genau, wenn Last Christmas von Wham! in Endlosschleife läuft.

Unterschiede gibt es dennoch. Während nicht zu übersehen ist, dass beim Fernsehen trotz aller Publikumsvorlieben für Vertrautes und leichte Variationen von Vertrautem ein immerhin begrenztes Interesse an Innovation und Überraschung vorhanden ist, verhält es sich bei der häufigsten Variante des Radios, dem Musikradio, ganz anders. Hier ist nicht zu überhören, dass die wichtigste Devise offenbar lautet: Nur keine Überraschungen! Und das nicht nur zur Weihnachtszeit. Fast alle Sender geben sich offenbar große Mühe, Hörerinnen und Hörer nicht zu überfordern – die Playlists sind meist sehr überschaubar, und im Idealfall klingen sogar brandneue Lieder so, als hätten wir sie schon hundertmal gehört.

Es gab auch schon einmal völlig andere Formen des Musikradios, und wer diese kennt, fragt sich unwillkürlich: Was ist hier eigentlich passiert? Tatsächlich eine ganze Menge über viele Jahrzehnte, und wie meistens in der Mediengeschichte gibt es dafür nicht eine einzige, simple Erklärung, sondern viele Erklärungsansätze, die alle etwas damit zu tun haben.
 

 

Erste Rückblende: Musikradio für junge Menschen von den 1960er- bis in die 1980er‑Jahre

Um komplexe Zusammenhänge zu veranschaulichen, ist oft ein konkretes Beispiel hilfreich. Stellen wir uns also einen jungen Mann vor, der seine Teenagerzeit in den 1960er‑Jahren in Hessen verbrachte. Wie sehr viele seiner Altersgenossinnen und ‑genossen interessierte er sich erst für Beatmusik, später für vieles von dem, was aus Beat herauswuchs und im weitesten Sinne mit „Rock“ bezeichnet wurde. Typisch für viele – aber keineswegs für alle – aus seiner Generation war weiter, dass er sich nicht bloß für Beat und Rock interessierte, sondern dass diese Musik zentrales Hilfsmittel seiner Identitätskonstruktion war. Beatles oder Stones? Das war weitaus wichtiger als die Frage, ob man evangelisch oder katholisch war.

Du bist, was du hörst! Aber das bundesdeutsche Radio war dabei zunächst keine große Hilfe. Es gab nicht viel zu hören, außer beim Hessischen Rundfunk die wöchentliche Schlagerbörse mit dem legendären Moderator Hanns Verres. Abhilfe bot da nur AFN, das American Forces Network, und zu bestimmten Zeiten Radio Luxemburg. Das war immerhin mehr, als das Fernsehen zeigte, da gab es einmal im Monat am Samstagnachmittag den Beat-Club und wenig mehr.

Dabei ging es immer um zweierlei: wieder hören und neu entdecken, Vorlieben bestätigen und das Hörrepertoire erweitern. Daran änderte sich auch in den 1970er- und 1980er‑Jahren noch nicht viel, als sich das Musikradioangebot für junge Menschen drastisch vermehrte. Es gab nicht nur viele neue Sendungen, sondern auch neue Sender, nicht zuletzt musikdominierte Servicewellen.

Die Moderation fungierte in vielen Musiksendungen dieser Zeit als so etwas wie ein Lotsendienst: Die Sachkenntnis und der Enthusiasmus der Moderatorinnen und Moderatoren halfen, auch vollkommen Neuartiges und Unvertrautes zugänglich zu machen, Ohren zu öffnen und neue musikalische Räume zu erschließen. Dass vor diesem Hintergrund einige von ihnen Kultstatus erlangten, war unvermeidlich. Da wir uns immer noch in Hessen befinden, seien hier stellvertretend für viele andere neben dem Pionier Hanns Verres nur für die 1970er‑Jahre Volker Rebell (Volkers Kramladen) und für die 1980er‑Jahre Klaus Walter (Der Ball ist rund) erwähnt.
 

 

Zweite Rückblende: Die Zeiten ändern sich

Mitte der 1980er‑Jahre veränderte sich nicht nur die bundesdeutsche Medienlandschaft durch die Zulassung von privaten Medienanbietern, die darauf folgende Veränderung des Musik­radios im Allgemeinen war zusätzlich als Reaktion auf musikkulturellen Wandel interpretierbar.

Erstens hatte sich das Feld, das Ende der 1960er‑Jahre mit den Begriffen „Pop“ und „Rock“ noch einigermaßen zufriedenstellend zusammengefasst werden konnte, radikal vergrößert und ausdifferenziert. Um 1970 konnte man noch alle halbwegs interessanten Neuerscheinungen einer Woche an einem Nachmittag im Schallplattenladen des Vertrauens durchhören. 1985 war dies nicht nur aufgrund der schieren Menge unmöglich, sondern auch wegen der unzähligen Genres, auf die sich diese Menge inzwischen verteilte. Es gab ja nicht nur mehr oder weniger aktuelle Varianten wie beispielsweise New Wave, Synthiepop, Industrial, EBM oder Hip-Hop, sondern gleichzeitig zahlreiche historische Formen in aktuellen oder aktualisierten Versionen, von Rockabilly bis Progressive Rock, ganz zu schweigen von bereits damals gefühlten 50 Subgenres von Metal. Die Konsequenz: Gab es bis in die 1970er‑Jahre noch ein ziemlich überschaubares Angebot und ein zumindest relativ weit verbreitetes Interesse, auch mal über den akustischen Tellerrand zu hören und Neues kennenzulernen, lud die Angebotsmenge nun eher dazu ein, sich eine möglichst kuschelige Nische zu suchen – ein vollständiger Überblick war ja ausgeschlossen.

Zweitens hatte Musik für viele Jugendliche ihre vormals zentrale Position im Baukasten zur Identitätskonstruktion verloren. Musik war nicht mehr ganz so wichtig, Körpermedien wie Kleidung oder Schmuck gewannen an Bedeutung, am Horizont war auch schon abzusehen, dass Gaming einmal ganz wichtig werden könnte. Entfernt hatte diese Entwicklung sogar auch mit Musik zu tun: Dank der Erfolgsgeschichte des Musikvideos wurde die Kopplung von Sound und Optik in vielen Genres zu einem wichtigen Faktor. Bei einigen Künstlerinnen und Künstlern ist sich die Musikgeschichtsschreibung sogar einig, dass ihr Anfangserfolg mehr auf ihren Videos basierte als auf ihren Musikveröffentlichungen, etwa bei Duran Duran oder Madonna.

Drittens schließlich gab es nach der Zulassung kommerzieller Radiosender neue Spielregeln: Aus der Radiolandschaft wurde ein Radiomarkt, und Hörerzahlen waren für alle Sender wichtig, egal ob sie sich vollständig oder nur zum Teil aus Werbeeinnahmen finanzierten. Solange es nur öffentlich-rechtliches Radio gegeben hatte, war Senderkonkurrenz ein Randphänomen gewesen, nun aber wurde es ernst. Und das hieß unter anderem, dass aus dem Einschalt-Radio ein Nicht-Ausschalt-Radio wurde.
 

 

Die Idee der Durchhörbarkeit und das Formatradio

Das klassische Radio war ein typisches Einschalt-Radio: Über den Tag bot fast jeder Sender unterschiedliche Sendungen, und das Ziel war, mit jeder einzelnen Sendung eine eigene Zielgruppe zu erreichen. Für das neue Radio, bei dem öffentlich-rechtliches Radio mit einer großen Zahl privatrechtlicher Sender konkurriert, ist die Zielvorgabe anders. Nicht die Sendung, der ganze Sender soll gefallen; nicht nur das Einschalten ist das Ziel, sondern auch das Nicht-Ausschalten. Und damit verändern sich zwangsläufig die Inhalte – wer nur eingeschaltet werden will, möchte gefallen; wer nicht ausgeschaltet werden will, möchte vor allem kein Missfallen erregen. Mit Blick auf die angepeilte Zielgruppe sind Ecken und Kanten zu vermeiden, es muss ein konsensfähiges Angebot geliefert werden, das zwar kaum jemanden begeistert, dafür aber auch kaum jemanden verärgert. Gleichzeitig sind Sendungsübergänge weich zu gestalten, sodass kaum noch auffällt, ob man noch Sendung A oder schon Sendung B hört.

Im Idealfall entsteht so „Durchhörbarkeit“: Man kann den ganzen Tag den gleichen Sender hören und das Einzige, was sich wirklich ändert, ist die Uhrzeit – was manche Sender sogar schon in den Sendungstiteln andeuten. So offeriert der reichweitenstärkste Radiosender des Hessischen Rundfunks aktuell beispielsweise ab 5.00 Uhr die hr3 Morningshow, ab 9.30 Uhr folgt hr3 am Vormittag, später gibt es dann noch hr3 am Vorabend und hr3 am Abend.

Musikalische Überraschungen sind da nicht zu erwarten, ganz im Gegenteil: Ein hohes Maß an Ähnlichkeit unter den gespielten Titeln ist essenziell für das Senderprofil, das bei den meisten Sendern, nicht nur bei den privatrechtlichen, mit einer bestimmten „Musikfarbe“ verbunden ist. Diese Farbe bestimmt in der Regel auch das „Format“ des Radiosenders, und abgesehen von Freien Radios gibt es nur noch relativ wenige Sender, die nicht formatiert sind. Pionier war übrigens in den 1950er‑Jahren ein US-Sender, der nur noch aktuelle Hits spielte und so das „Top 40“-Radioformat erfand. Typisch für musikorientiertes Formatradio ist allgemein ein begrenztes Repertoire einsetzbarer Titel, die Playlist.

Die Moderatorinnen und Moderatoren des Formatradios haben geringen bis gar keinen Einfluss auf das, was gespielt wird. Ihre Sprechanteile sind zwar nicht unbedingt geringer als beim Musikradio früherer Zeit, nur reden sie nicht mehr so viel über Musik.
 

Das Tagesbegleitradio als Kokon …

Zur Idee der Durchhörbarkeit gehört eine neue Funktion des Radios: Es will durch den Tag oder zumindest größere Teile davon begleiten, und bei all den Überraschungen, die der Tag so bietet, ein Hort der Beständigkeit sein, geradezu eine Art Heimat. Nicht ohne Grund legen viele Sender Wert darauf, von möglichst vielen Hörerinnen und Hörern als „mein Sender“ apostrophiert zu werden.

Zur akustischen Heimat werden Radiosender nicht nur durch die vertrauten Stimmen der Moderation, sondern auch durch die Musikauswahl, ihre Musikfarbe. Eingebunden in überschaubare Playlists bringen sie weitgehend vertraute Klänge zu Gehör. Klänge, die in der Regel mit der Jugendzeit der Hörerinnen und Hörer verbunden sind: Die Musikfarbe ist die Farbe ihrer Jugendzimmer. Nur wenige Menschen interessieren sich ihr Leben lang mit großer Begeisterung für neue Musik. Aber die meisten tun es in einer entscheidenden Lebensphase, der Pubertät und den Jahren danach. In dieser Zeit entdecken wir uns selbst und die Welt, träumen davon, was wir alles machen und werden können, und bis heute gehört zu dieser Phase ein ganz bestimmter Soundtrack. Selbst wenn das Interesse an Musik im Erwachsenenleben nachlässt, dieser ganz bestimmte Soundtrack bleibt als Sound der eigenen Hoffnungen und Sehnsüchte oft ein Leben lang bedeutsam. Daraus erklärt sich sowohl der Erfolg einschlägiger Jahrzehnteshows im Fernsehen als auch die Beliebtheit unzähliger Radiosender mit den größten Hits aus den 80er‑, 90er‑ und 00er‑Jahren.
 

… und als Filterblase

Mit dem Angebot, Tag für Tag von vertrauten Klängen begleitet zu werden, ist das Formatradio überdies zum Pionier eines Lebens in der Filterblase geworden. Wo heute soziale Medien und das Internet durch Algorithmen ein digitales Leben in Selbstähnlichem ermöglichen, hat das Formatradio dies schon vor 30 Jahren eingeübt. Wer diese Meinung hat und jenes mag, dem wird heute in der digitalen Welt von Suchmaschinen und Onlinehändlern als Erstes angeboten, was dem ähnlich ist oder von Personen mit den gleichen Präferenzen geschätzt wird. Dem gleichen Prinzip folgt Formatradio schon immer: Wer Wham! mag, mag auch Frankie Goes to Hollywood, und so entsteht die Playlist für ein 80er-Jahre-Radioformat.

So wie es in der Internet-Meinungsblase nicht mehr um Diskussion und Meinungsbildung geht, sondern um Selbstbestätigung, geht es auch beim Formatradio nicht mehr um Musik, sondern um „Algorhythmen“, computergestützte Erinnerungen an eine gern auch idealisierte Jugendzeit.
 


 

Kleine gallische Dörfer im Internet

Bekanntlich gibt es im Internet wirklich alles, man muss nur lange genug danach suchen. Und tatsächlich gibt es im Internet sogar ein Radio jenseits des Formatradios; ein Radio, das Musik ernst nimmt und nicht nur als austauschbaren Hintergrund sieht. Das klassische Autorenradio ist ins Internet gewandert, zum Beispiel zu ByteFM – einem von vielen Sponsoren finanzierten Webradio, das die unterschiedlichsten Arten von populärer Musik bringt, vorgestellt von Moderatorinnen und Moderatoren, die darauf brennen, ihrer Hörerschaft Musik nahezubringen, die diese vielleicht noch nicht kennen, die aber ihr Leben bereichern kann. Und unter den Moderatoren von ByteFM finden sich sogar einige seit Jahrzehnten vertraute Namen – wie zum Beispiel Volker Rebell und Klaus Walter: So schließt sich der Kreis vom ganz alten zum ganz neuen Radio …