„Es gibt Bilder, die müssen gezeigt werden!“

Vera Linß im Gespräch mit Johannes Böhning

Johannes Böhning ist stellvertretender Chefredakteur des Fernsehsenders N24 (inzwischen WELT)und leitet bei WeltN24 die Redaktion „Bewegtbild“. tv diskurs sprach mit ihm über die Herausforderungen bei der Berichterstattung über das Attentat auf dem Breitscheidplatz am 19 Dezember 2016 und den Umgang mit den Bildern des Terrors im digitalen Zeitalter.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 1/2018 (Ausgabe 83), S. 40-45

Vollständiger Beitrag als:

Vor welchen Herausforderungen standen Sie bei der Berichterstattung über den Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz?

Erst einmal bestand die Herausforderung darin, dass der Terroranschlag quasi direkt vor der Haustür stattfand. Wir wussten die ganze Zeit, dass so etwas passieren kann. Wenn es dann aber tatsächlich geschieht, ist es immer noch mal eine besondere Situation. Im ersten Moment denkt man, das kann nicht wahr sein – wohl wissend, dass es wahr ist. Und dann bringt man die ganze Apparatur zum Laufen. Bei uns bedeutet das, ein Studio vorzubereiten, die Moderatoren ins Studio zu holen und auf Sendung zu gehen. Gleichzeitig müssen Reporter und Kameraleute organisiert und Bilder im Internet recherchiert werden. Daneben gilt es, Telefonschalten mit Experten vorzubereiten. Wenn so ein Anschlag vor der eigenen Haustür geschieht, heißt das natürlich auch, dass man persönliche Gefühle zurückstellen muss. In diesem Moment ist man nur noch Journalist.

Im Zusammenhang mit Terroranschlägen wurde in den Medien darüber diskutiert, wie lange man eigentlich auf Sendung bleiben soll – auch wenn nichts Neues mehr geschieht und sich der Stand der Erkenntnisse ab einem bestimmten Punkt nicht mehr großartig verändert. Wie haben Sie das gehandhabt?

Irgendwann kommt der Punkt, an dem man aufhören muss, zu senden. Für uns war dieser Punkt in der Nacht gegen 02:00 Uhr morgens erreicht. Wir haben uns gesagt, wir steigen um 06:00 Uhr wieder in die Berichterstattung ein und schauen dann, was der neue Tag bringt. Beim Breitscheidplatz war die Nachrichtenlage da plötzlich ganz anders, weil der, der am Abend als Täter gefasst wurde, morgens um sechs nicht mehr der Täter war. Es ist immer schwierig zu entscheiden, wann man aus der Berichterstattung aussteigt. Aber auch der Einstieg ist umstritten. Uns wird nicht nur der Vorwurf gemacht, zu lange zu berichten, sondern auch, dass wir zu schnell berichten und zu viel spekulieren. Von uns wird aber erwartet, dass wir sofort anfangen zu berichten. Das tun wir auch. Zu behaupten, es gäbe einen Punkt, an dem nicht mehr spekuliert wird, ist unehrlich. Bei dem Germanwings-Absturz wussten wir zwei Tage lang nicht, dass der Pilot die Maschine selbst in den Berg gesteuert hat. Man hätte nicht erst nach zwei Tagen anfangen können, zu berichten. Man berichtet, wenn es passiert. Hinzu kommt, dass der Druck, schnell on air zu gehen, für alle höher geworden ist. Denn durch die digitalen Medien ist eine Nachricht sofort in der Welt. Dann wollen die Menschen auch erfahren, wie viele Verletzte es gibt, wie viele Tote.

Nun war der Anschlag in Berlin nicht der erste, über den die Medien berichten mussten. Man konnte also vorbereitet sein. Haben Sie Leitlinien in der Redaktion, wie man mit solchen Situationen umgeht, was man zeigt und was nicht?

Wir haben Leitlinien, nach denen wir entscheiden, was wir zeigen dürfen und was nicht. Hierbei geht es darum, dass wir die Persönlichkeitsrechte beachten müssen – die der Opfer, der Angehörigen und der Täter. Darstellungen von besonderer Brutalität, herabwürdigende Szenen oder sterbende Menschen dürfen nicht gezeigt werden. Auch wollen wir uns nicht für politische Propaganda instrumentalisieren lassen. Trotzdem muss das jeden Tag wieder neu verhandelt werden, weil es immer Ausnahmen gibt. Es gibt Bilder, die sind so verstörend und so bewegend – wie der Junge Aylan, der am Strand lag –, die müssen gezeigt werden, weil sie sinnbildlich für ein großes Unrecht stehen. Erst durch diese Bilder können sich die Menschen eine Vorstellung von dem machen, was wirklich passiert. Das gilt für Kriege, wie auch für jede Hungerkatastrophe. Eine Hungerkatastrophe existiert für die Öffentlichkeit gar nicht, solange es keine Bilder davon gibt. Das sieht man auch an der Spendenbereitschaft. Die Leute spenden erst in dem Moment, in dem sie Bilder von einer Hungerkatastrophe sehen. Man bekommt erst dann eine Beziehung zu dem Ereignis, wenn man Bilder davon sieht. Insofern ist es immer eine Abwägung. Es ist eine große Verantwortung, Persönlichkeitsrechte zu schützen und Bilder nicht zu zeigen. Es besteht aber auch eine Verantwortung, Bilder zu zeigen und die Öffentlichkeit aufzuklären.

In diesem konkreten Fall bestand ja die besondere Herausforderung darin, dass plötzlich jemand live auf dem Breitscheidplatz mit dem Smartphone filmte und das im Netz streamte. Sie wussten gar nicht, was er als Nächstes zeigen wird. Wie sind Sie damit umgegangen?

Wir waren sehr vorsichtig und haben den Stream dann auch aus dem Programm genommen. Wir hatten selbst 20 Minuten nach dem Anschlag eine Livekamera vor Ort vor dem Lastwagen und haben dort Verletzte gesehen und entschieden: Dieses Bild müssen wir abmildern. Wir sind dann weggeschwenkt, auch weil Zuschauer sich gemeldet und gesagt haben, wir können so etwas nicht zeigen. Man kann sicher darüber diskutieren, ob die Bilder zu hart waren oder nicht. Es war halt ein Terroranschlag in Deutschland. Trotzdem haben wir unsere eigenen Kameraleute angehalten, möglichst neutrale Bilder von dem Ereignis zu liefern. Das ist immer eine Gratwanderung. Später wurde uns vorgeworfen, wir würden zu viel über den Täter berichten und zu wenig über die Opfer. Es ist aber schwer, im Fernsehen über Opfer zu berichten, wenn es keine Bilder gibt. Da entstand am Ende der Eindruck, wir würden uns nur für den Täter interessieren.

Entscheidet auch das Bauchgefühl darüber, welche Bilder man zeigt und welche nicht?

Trotz der Standards, die wir haben, ist es tatsächlich auch immer eine Einzelfallabwägung. Und wenn es so schnell gehen muss, weil es in Echtzeit passiert, entscheiden Kopf und Bauch. Es ist eine rationale Entscheidung, die man aus dem Bauch heraus trifft. Und wir diskutieren in der Redaktion, weil keiner sich in der Lage fühlt, es allein zu entscheiden.

Was wäre denn so schlimm daran gewesen, Verletzte zu zeigen? Es geht ja immer darum, die Würde des Menschen zu bewahren und z.B. nicht das Gesicht zu zeigen. Wenn man nun einen Verletzten zeigte, den man nicht identifizieren kann, wäre das trotzdem schlimm?

Da scheiden sich die Geister. Ich persönlich glaube, es gehört zu einem Anschlag dazu, dass man unter Wahrung der Persönlichkeitsrechte das Leid auch ins Bild hebt. Aber wir haben sehr viele negative Reaktionen erhalten, weil Verletzte zu sehen waren. Durch das Internet sind die Leute sehr sensibel geworden – gerade weil dort alles verfügbar ist, man mit einem Klick auf den schlimmsten Seiten drauf ist. Deswegen wird von „seriösen” Nachrichten umso mehr erwartet, dass sie die Persönlichkeitsrechte respektieren. Der Breitscheidplatz war der Höhepunkt dieser in Anführungsstrichen „restriktiven“ Berichterstattung. Alle haben peinlich genau darauf geachtet, bloß keine Toten zu zeigen, bloß keine Verletzten, keine Opfer. Am Ende entstand der Eindruck, dass es ein steriles Ereignis war. Das gipfelte in dem Vorwurf, die Deutschen und die Berliner wären nicht in der Lage, zu trauern. Das ist natürlich Unsinn. Es ist aber schwierig, einen Zugang zu einer Geschichte zu finden, von der es so gut wie keine Bilder gibt.

Ich habe mich auch gewundert, dass so wenig von deutschen Opfern berichtet wurde. Meine Annahme war, die betroffenen Familien wollten das nicht. War das so?

Ich nehme an, dass die Opfer auch dahin gehend beraten wurden, nicht an die Öffentlichkeit zu gehen. Viele haben auch erst nach zwei, drei Tagen erfahren, dass ihre Angehörigen ums Leben gekommen sind. Das geht aus dem offenen Brief hervor, den die Angehörigen an die Kanzlerin im Dezember 2017 geschrieben haben. Tatsächlich hat auch niemand den Weg an die Öffentlichkeit gesucht und wir Medien haben uns ebenfalls zurückgehalten. Im ZDF gab es ein halbes Jahr später einen Bericht, nachdem zwei, drei Familien an den Sender herangetreten waren, um das erste Mal darauf aufmerksam zu machen, dass man ihnen eben nicht genug Beachtung schenkt. Das wurde aber nicht so stark wahrgenommen damals. Ein Jahr später, mit dem offenen Brief, ist es mehr publik geworden.

Mir scheinen die Medien zwischen zwei Extremen zu schwanken. Auf der einen Seite die „Bild-Zeitung“ und der Boulevard, der sich auf alles stürzt, und das andere Extrem, dass man respektvoll Distanz wahrt.

Ich glaube, es hat eine Verschiebung des Wertekanons stattgefunden. Das hat angefangen mit dem Germanwings- Absturz, bei dem viele Medien das erste Mal extrem unter Druck geraten sind. Weil sie über Schicksale berichtet haben, wurden Rügen vom Presserat ausgesprochen. Hinterher sind wir immer vorsichtiger geworden. Während des ganzen Syrienkrieges, wo auch viele schreckliche Bilder im Netz kursierten, haben wir bewusst darauf verzichtet, diese zu senden. Teilweise, weil sie zu grausam waren, teilweise, weil wir uns auch von der Propaganda des IS nicht instrumentalisieren lassen wollten. Es hat sukzessive eine Zurücknahme gegeben in der Berichterstattung, der Breitscheidplatz war der Höhepunkt. Es hat sich aber gezeigt, dass es nicht nur gut ist, sich zurückzuhalten, weil am Ende der Eindruck entsteht, man würde sich eigentlich nur mit dem Täter auseinandersetzen und nicht genug Empathie für die Opfer aufbringen.

Wenn sich Zuschauer über die Berichterstattung beschweren, wie gelingt es Ihnen, Ihre journalistischen Prinzipien aufrechtzuerhalten? Wie schafft man es als Medium, standfest zu bleiben und zu sagen: Das sind meine Leitlinien, die natürlich nicht in Stein gemeißelt sind.

Man muss sich jeden Tag bewusst sein, dass man als Journalist eine hohe Verantwortung trägt. Beschwerden, die z.B. massiv über das Internet kommen, dürfen einen nicht von den journalistischen Prinzipien abbringen. Letztendlich sind es auch nur Leserbriefe in Echtzeit. Sie vermitteln einen Eindruck, aber nie das gesamte Bild. Das Gros der Zuschauer meldet sich nicht. Vor allem die nicht, die mit der Berichterstattung einverstanden sind. Kritik wird immer geäußert und auch sehr stark wahrgenommen. Qualität gilt als selbstverständlich. Es ist richtig, heutzutage vorsichtiger zu sein, da gerade im Internet viele Falschinformationen verbreitet werden. Insofern muss man schauen, dass man die Leitlinien aufrechterhält und bei jeder Nachricht neu abwägt. Aber nach der Abwägung müssen wir trotzdem die Freiheit haben, zu berichten.

Johannes Böhning ist stellvertretender Chefredakteur des Fernsehsenders N24 und leitet bei WeltN24 die Redaktion „Bewegtbild“.

Vera Linß ist Medienjournalistin und Moderatorin.