Die Unmittelbarkeit der Gewalt im Kino wächst

Werner C. Barg

Dr. Werner C. Barg ist Autor, Produzent und Dramaturg. An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) vertritt er die Professur „Audiovisuelle Medien“.

Inhalt wie Machart des Kriegsfilms Dunkirk von Kultregisseur Christopher Nolan, der aktuell im Kino zu sehen ist, geben Anlass, eines der umfassendsten Projekte der Filmgeschichte neu zu beleuchten: die kritische Auseinandersetzung ambitionierter Filmregisseure mit den Aspekten und Darstellungsformen menschlicher Gewalt. Dabei wird klar, Nolan eifert einem der ganz Großen der Filmgeschichte nach: Stanley Kubrick. Auch er bearbeitete dieses Thema in seinen Filmen. Der Beitrag beleuchtet die Darstellung menschlicher Gewalt bei Kubrick und Nolan vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels.

Online seit 28.08.2017: https://mediendiskurs.online/beitrag/die-unmittelbarkeit-der-gewalt-im-kino-waechst/

Vollständiger Beitrag als:

Kino der Gewalt und Gewalt des Kinos

Nolan selbst hat seinen Film einen „Actionthriller“ genannt. Nach nur vier kurzen erläuternden Sätzen zur Ausgangssituation der Schlacht von Dünkirchen versetzt der Regisseur den Zuschauer ganz unmittelbar in den gnadenlosen Zustand des Krieges, konfrontiert ihn mit der Angst der Soldaten am Strand, die vor dem Feind zurückweichen müssen und deren Mentalität zwischen Hoffnung auf Rettung und frustrierender Erwartung von Tod oder Gefangenschaft hin- und herschwankt.

Der Feind bleibt anonym. Nur durch eine ungeheure Feuerkraft und Explosionsgewalt wird er in den Bildern sichtbar. Dieser gesichtslose, aber gnadenlos brutal agierende Gegner hält den Zuschauer in ungeheurer Spannung, da dieser an seinem Figurenensemble immer unmittelbar dran bleibt.

Nolans Film überwältigt sein Publikum auf visueller und auditiver Ebene: Dazu trägt nicht nur die Verwendung von 4K-Kameras bei, also Aufnahmegeräten, die eine doppelt so hohe Bildauflösung liefern wie die üblichen digitalen Filmkameras, sondern auch Hans Zimmers hämmernde Filmmusik und eine rasante Montage, die die unterschiedlichen Orte und Zeitphasen der Handlung in überraschender Weise verbindet. Der Regisseur nutzt also die Bild- und Tongewalt des Kinos, um dem Zuschauer die Gewalt des Krieges, wie ihn Soldaten und Offiziere an der Front erleben, in direkter Weise nahezubringen. Erklärungen, die über die vier Einführungssätze hinausgehen, liefert der Film kaum. Durch dieses Konzept einer auf den individuellen Blick der Figuren einengenden Narration ist der Zuschauer noch stärker gezwungen, sich auf die existenzialistische Erzählsituation des Films einzulassen: Das Publikum ist in die Kriegsschlacht „geworfen“, spürt ganz unmittelbar die drohende Gewalt und die Angst der Protagonisten, sucht mit ihnen nach Fluchtmöglichkeiten, hofft auf Rettung.
 

Mit dieser Art, Form (Bildgewalt des Kinos) und Inhalt (Kriegsgewalt) filmisch zusammenzubringen, knüpft Nolan an die kritische Auseinandersetzung von Filmregisseuren mit der menschlichen Gewalt an und führt in spezifischer Weise fort, was vor ihm u.a. Regisseure wie Sam Peckinpah, Sergio Leone, David Lynch, Oliver Stone, Francis Ford Coppola, Martin Scorsese und schließlich Stanley Kubrick in den 1960er- und 1970er-Jahren im populären Film begonnen hatten.
 

Kriegsdrama als Überwältigungskino

1940 in Europa: Der Zweite Weltkrieg ist in vollem Gange; an der Westfront sind die Nazitruppen auf dem Vormarsch, eilen von „Blitzsieg“ zu „Blitzsieg“. Am Strand von Dünkirchen warten 400.000 Briten und Franzosen auf ihre Evakuierung per Schiff ins rettende Großbritannien. Doch die Luftunterstützung durch die Royal Air Force lässt auf sich warten. Es droht das größte militärische Desaster für die Alliierten im Zweiten Weltkrieg.

Regisseur Christopher Nolan wählt diese als Operation Dynamo in die Kriegsgeschichte eingegangene Aktion zum Hintergrund seines neuen Films Dunkirk. Er setzt diese Episode des Krieges als atemberaubendes Bedrohungsszenario ausschließlich aus der Sicht der Briten und Franzosen in Szene. Bildgewaltig inszeniert und prominent besetzt, u.a. mit Kenneth Branagh, Tom Hardy, Cillian Murphy und Mark Rylance, erzählt er die Geschichte einiger Soldatenschicksale zu Lande und in der Luft sowie von Zivilpersonen zu Wasser, die mit ihren Privatbooten und Seglern den Eingeschlossenen von Dünkirchen zu Hilfe eilen.
 

Gewaltzusammenhänge als gesellschaftliche Zusammenhänge

Den Kanon der zuvor genannten Regisseure zeichnet aus, dass sie sich in ihrem filmischen Werk kritisch mit dem Phänomen der menschlichen Gewalt auseinandersetzen und die dargestellten Gewaltverhältnisse stets im Kontext der gesellschaftlichen Umstände der Entstehung wie der Wirkung von Gewalt reflektieren (vgl. Barg/Plöger 1996). So stellen etwa Martin Scorsese oder Francis Ford Coppola in zahlreichen ihrer Filme die Gewaltzusammenhänge in der US-amerikanischen Mafia (z.B. Good Fellas – Drei Jahrzehnte in der Mafia, Martin Scorsese, 1989) und den Zusammenhang von organisiertem Verbrechen und dem wachsenden politischen Einfluss der US-Mafia dar (Der Pate, Francis Ford Coppola, 1972–1990).

Oliver Stone widmet sich in Geboren am 4. Juli (1989) und in Zwischen Himmel und Hölle (1993) dem gesellschaftlichen Umgang mit Veteranen des Vietnam-Krieges. In seinem grellen Pop-Märchen Natural Born Killers (1994) thematisiert er das Wechselspiel von Gewalt und Medienmacht.

Und Stanley Kubrick fragt in allen seinen Filmen:

Wie kann der Mensch als freies Individuum sowohl gegenüber seiner eigenen gewalttätigen Natur als auch gegenüber den Herrschafts- und Einengungssystemen bestehen, die er sich in seinen Gesellschaften selbst erschaffen hat?“ (Barg 1996, S. 32).

Seine Filme zeigen „die Mechanismen der Gewalt und Grausamkeit, von der seine (Anti-)Helden und die Gesellschaft, in der sie leben (müssen), geprägt sind, mit radikaler Kaltherzigkeit und pessimistischer Nüchternheit als etwas Unabwendbares, Objektives. […] Bei Kubrick gibt es keine moralische Wertung, gar Beschönigung“ (ebd., S. 32 f.). „Der Mensch“, so Kubrick, sei „der unbarmherzigste Killer, der je auf der Erde jagte“ (Zimmerman 1972, S. 29). Ausgehend von diesem Satz nach seinem Menschenbild befragt, antwortete Kubrick 1987 zunächst mit einem Zitat von Joseph Conrad:

Der Mensch, obwohl ein Schwächling, ist oft auch noch ein Narr. Das scheint mir eine zutreffende Beobachtung zu sein. Und wenn man das in seinen Filmen zeigt, ist man kein Misanthrop, sondern ein genauer Beobachter“ (Karasek 1987, S. 237 f.).

Hier schließt sich der Kreis zum Werk von Christopher Nolan.
 

Kubrick und Nolan

Nach seinen Schwarz-Weiß-Film-Noir-Anfängen (Following,1998), dem Erzählexperiment Memento (2000), den Batman-Comic-Verfilmungen (2005/2008/2012) und den cineastischen Ausflügen ins Science-Fiction-Genre (Inception, 2010; Interstellar, 2014) nun also ein spektakulärer Kriegsfilm. Wie kein anderer Regisseur unserer Zeit eifert Christopher Nolan einem ganz Großen der Filmgeschichte nach: Auch Stanley Kubrick hat sich nach seinen Film-Noir-Anfängen in Schwarz-Weiß (Der Tiger von New York, 1955) nie auf ein Genre festgelegt, sondern vom Horrorfilm Shining (1980) über die „Space Opera“ 2001: Odyssee im Weltraum (1968) bis zum Kriegsfilm (Wege zum Ruhm, 1957; Full Metal Jacket, 1987) Werke geschaffen, die zu Marksteinen des jeweiligen Genres wurden.

Kubrick war stets darum bemüht, die ambitioniertesten und interessantesten filmkünstlerischen Lösungen zu finden, um neue Filmtechniken, Optiken, Designs, Soundsysteme etc. in seinen Filmen einzusetzen und durch die Wirkmacht des Kinos sowie die Bild- und Tongewalt seiner Filme das Publikum in seinen Bann zu schlagen.

Auch in diesem Punkt hat er in Christopher Nolan einen eifrigen Nachfolger gefunden. In Memento  wagte er das Experiment, die Handlung von hinten nach vorne zu erzählen; in Inception und Interstellar, wie jetzt auch in einzelnen Sequenzen von Dunkirk, schuf er Bildwelten, in denen der Zuschauer sich nur noch schwer zurechtfindet und schnell die Orientierung verliert, wo in den Bildern noch oben und unten ist. Der durch die Filmform geschaffene Orientierungsverlust und das Gefühl der Verunsicherung korrespondiert in den Filmerzählungen beider Regisseure mit ihrer Faszination für Antihelden, die in Gewaltszenarien verstrickt sind und immer nach Orientierung, Aufklärung und Erlösung suchen. Hierbei hat Nolan besonders in seinen Adaptionen des Batman-Comics zusammen mit seinem Bruder, dem Drehbuchautor Jonathan Nolan, das Konzept des Antihelden weitergeführt und radikalisiert.
 

Die Auflösung von Gut und Böse

In Nolans Prequel Batman Begins (2005) verwischen bereits die Grenzen zwischen moralisch gutem und bösem Handeln des Superhelden. In The Dark Knight (2008) radikalisiert Nolan schließlich nicht nur die Figur des Bösewichts, des Jokers, sondern dekonstruiert die Heldenfigur Batman bis hin zu einer gebrochenen Persönlichkeit, die ihre Aufgabe, Gutes tun zu wollen, nur noch bewältigen kann, wenn sie sich moralisch verwerflicher Methoden bedient.
 

Die Krisen kommen näher

Mit seiner Gleichsetzung des Gewalthandelns von Superheld und terroristischem Superschurken, das sich nur noch im Motiv, nicht mehr aber in der Methode unterscheidet, antwortete Nolan in seiner Blockbuster-Erzählung auf die gewandelte, unmoralische Politik der Bush-Administration, die im Krieg gegen den Terror Folter und andere radikale Gewaltanwendungen zuließ und sich damit auf eine Stufe stellte mit denjenigen, die zu bekämpfen sie beabsichtigte: den islamistische Terroristen.

Nun hat Nolan sich in Dunkirk der Kriegsgewalt zugewandt. Und auch hier werden etwa im Vergleich mit Kubricks Kriegsfilm Wege zum Ruhm von 1957 schnell die Unterschiede in der Gewaltdarstellung beider Regisseure, die auch zeittypisch zu verorten sind, deutlich: Kubrick thematisiert in seiner Darstellung der Hauptfigur Colonel Dax die historisch-politischen Umstände der Entscheidungen in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges stets mit. Nolan dagegen konzentriert sich ganz auf die individuelle Sicht seiner Figuren und schließt den gesellschaftlichen und historisch-politischen Kontext weitgehend aus.

So wie Kubricks Film den reflektorisch-kritischen Geist seiner Zeit repräsentierte, so entspricht Nolans filmische Darstellung durchaus dem heutigen Zeitgefühl. Wie im Blick der Protagonisten in Nolans Film fühlen auch wir in unserem Leben die Bombeneinschläge immer näherkommen. Der Krieg ist kein Thema mehr aus dem Geschichtsbuch, sondern plötzlich wieder reale Bedrohung. Und Begegnungen mit Geflüchteten bringen uns die Krisen dieser Welt näher als manchem lieb ist. „Früher waren Krisen partiell und weit entfernt, jetzt sind sie umfassend und nah“, schreibt Leitartikler Bernd Ulrich treffend in der ZEIT vom 10. August 2017.

Nolans Dunkirk ist ein historischer Kriegsfilm. Doch in der kompromisslosen Darstellung unmittelbarer Gewalt und der Ängste seiner Figuren ist er zugleich ein Dokument des Zeitgefühls, Ausdruck wachsender realer gesellschaftlicher Ängste und einer zunehmenden Verunsicherung.
 

Literatur

Barg, W. C./Plöger, T.: Kino der Grausamkeit. Frankfurt/Main 1996

Barg, Werner C.:Die Mechanismen der Gewalt – Stanley Kubricks Kinovisionen. In: Barg, W. C./Plöger, T.: Kino der Grausamkeit. Frankfurt/Main 1996

Zimmerman, Paul: Kubrick's Brilliant Vision. In: Newsweek, 3.1.1972, S. 29

Karasek, H.:Sind Sie ein Misanthrop, Mr. Kubrick? In: Der Spiegel 41/5.10.1987, S. 237 f.

Ulrich, B.:Geht wählen! In: Die Zeit 33/10.08.2017, S. 1