Die Pressefreiheit wird abgeschafft

In keinem anderen Land sind so viele Journalisten inhaftiert wie in der Türkei

Jens Dehn

Jens Dehn arbeitet als freiberuflicher Filmjournalist.

Um die Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei war es noch nie sonderlich gut bestellt, doch die Entwicklungen seit Verhängung des Ausnahmezustandes im vergangenen Sommer haben die Situation für unabhängige Journalisten noch einmal dramatisch verschlechtert. Medien, die auch nur in Ansätzen oppositionelle Positionen aufgreifen oder die Regierung kritisieren, werden geschlossen und ihre Angestellten verhaftet und ohne Anklage festgehalten. Rund 150 Journalisten befinden sich zurzeit im Gefängnis.

Printausgabe tv diskurs: 21. Jg., 2/2017 (Ausgabe 80), S. 6-9

Vollständiger Beitrag als:

Reporter ohne Grenzen (ROG), die nicht staatliche Organisation, die sich seit Jahrzehnten für Pressefreiheit einsetzt, hat den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan 2016 als neues Mitglied auf ihre Liste der „Feinde der Pressefreiheit“ gesetzt. Hier befindet er sich in einem illustren Kreis mit Diktatoren wie Kim Jong Un, dem weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin, den Taliban, dem IS und dem syrischen Machthaber Baschar al-Assad.

Dabei kann man nicht behaupten, dass sich die Türkei vor 2016 durch ausgewogene Presse- und Meinungsfreiheit ausgezeichnet hätte. In der von Reporter ohne Grenzen jährlich herausgegebenen Rangliste der Pressefreiheit nimmt das Land schon seit Jahren mit einer gewissen Konstanz Positionen um Platz 150 ein, aktuell ist es Rang 151 von 180. „Doch alles, was nach dem Putschversuch am 15 Juli 2016, dem Ausnahmezustand und den damit verbundenen Dekreten zusammenhängt, geschah nach Veröffentlichung der Liste 2016“, erklärt Anne Renzenbrink, Pressereferentin bei Reporter ohne Grenzen. Es ist daher davon auszugehen, dass die Türkei auf der Rangliste 2017, die Ende April dieses Jahres erscheinen wird, noch einmal ein ganzes Stück abrutschen wird. Der 15 Juli 2016 markiert – so gesehen – keineswegs eine harte Zäsur. Es ist lediglich der Stichtag, zu dem eine ohnehin schon prekäre Situation durch die Erklärung des Ausnahmezustandes sowie die willkürliche Erlassung von Dekreten nur noch schlimmer wurde.

150 Zeitungen und TV-Sender geschlossen

Der Ausnahmezustand dient Präsident Erdoğan als Freifahrtschein und Legitimierung, um unliebsame Stimmen schnellstens mundtot zu machen. Seit Juli 2016 wurden in der Türkei fast 800 Journalisten die Presseausweise entzogen, rund 150 Medien wurden geschlossen. 49 Journalisten befinden sich laut ROG derzeit in Haft. „Doch das ist nur die Zahl der Fälle, in denen wir einen direkten Zusammenhang der Haft mit der journalistischen Tätigkeit nachweisen konnten“, sagt Anne Renzenbrink. „Insgesamt sind dort derzeit rund 150 Journalisten inhaftiert. Der Medienpluralismus in der Türkei ist weitgehend zerstört.“ Die Begründung für Restriktionen, Schließungen und Verhaftungen in den allermeisten Fällen: Nähe und Sympathie zu den Kurden bzw. zu dem Prediger Fethullah Gülen, der im US-Exil lebt und den Erdoğan als Drahtzieher des Putschversuchs betrachtet. „Gefährdung der nationalen Sicherheit“, „Volksverhetzung“ und „Propaganda für eine Terrororganisation“ sind die Fachtermini, die dafür offiziell angeführt werden. Die beiden letzteren Vorwürfe wurden z.B. auch gegen den „Welt“-Reporter Deniz Yücel angeführt.

Der Fall Yücel machte das Ausmaß der Willkür zum ersten Mal auch in Deutschland spürbar. Bis zu seiner Verhaftung hat man hierzulande zwar am Rande mitbekommen, was in der Türkei vor sich geht, die hiesigen Medien haben es pflichtbewusst im Ton der Empörung erwähnt. Doch wirkliches öffentliches Interesse kam lange Zeit nicht auf. Erst mit Yücel und der Tatsache, dass dieser auch einen deutschen Pass besitzt, starteten die Medien eine breite Berichterstattung, erst dann kam das Thema auch innenpolitisch auf die Agenda, inklusive aller sich daran anschließenden Entwicklungen, die zu einem neuen Tiefpunkt der deutsch-türkischen Beziehungen führten. Deniz Yücel wurde aufgrund seiner doppelten Staatsbürgerschaft sicher nicht zufällig ausgewählt. Mit seiner Inhaftierung sendete die türkische Regierung ein klares Signal nach außen: Wenn bereits ein ausländischer Reporter verhaftet wird (als solcher wird Yücel aufgrund seines deutschen Passes mehrheitlich wahrgenommen), weil er sich kritisch gegen den Kurs von Erdoğan und seiner Partei AKP richtet, dann können sich türkische Journalisten erst recht nicht sicher fühlen. Es wird ein Klima der Angst geschürt, und in den meisten Fällen funktioniert diese Einschüchterung.

Die Bevölkerung in der Türkei weiß natürlich von den Verhaftungen und Sanktionierungen, sie finden schließlich vor den Augen der Menschen statt. Doch ein ausgewogenes Bild der Geschehnisse bleibt den Bürgerinnen und Bürgern vorenthalten, da sich regierungskritische Journalisten zurückziehen und in der Öffentlichkeit fast nur noch die Ansichten Erdoğans und seiner Parteileute transportiert werden. So ist der Fall Yücel in Deutschland ein die Medien über Wochen beherrschendes Thema, in der Türkei fand er so gut wie gar keine Erwähnung.

Abhängigkeiten

Wie konnte es zu dieser Situation kommen? Unabhängig vom Putschversuch und dem darauf folgenden Ausnahmezustand waren die Medienstrukturen in der Türkei schon vorher äußerst problematisch. Die großen Medienkonzerne sind für ihre Eigentümer jedoch meist nur Nebenbeschäftigungen, im Hauptberuf leiten sie Wirtschaftsunternehmen.

Mitte 2016 hat Reporter ohne Grenzen ein Projekt lanciert, das die oftmals schwer durchschaubaren Beziehungen zwischen Unternehmen, Medien und dem Staat in der Türkei sichtbar machen soll. In Zusammenarbeit mit der türkischen Medienwerkstatt bianet ist so u. a. die Onlineplattform http://turkey.mom-rsf.org entstanden, auf der Missstände festgehalten und protokolliert, Verbindungen und Abhängigkeiten sichtbar und nachvollziehbar gemacht werden. Auf diese Weise wird deutlich, wie Fernsehsender von Unternehmern beherrscht werden, deren Eigentümer teils enge freundschaftliche Beziehungen zu Staatschef Erdoğan unterhalten. Wobei das Wort „freundschaftlich“ mit Vorsicht zu gebrauchen ist: Der Erfolg ihrer Wirtschaftskonzerne hängt für die Eigentümer stark davon ab, Aufträge der Regierung zu bekommen. Auch sie befinden sich daher oftmals eher in einer Abhängigkeit.

So ist „Hürriyet“ noch immer die meistverkaufte Tageszeitung des Landes, ihre Auflage beträgt rund 350.000 Exemplare. „Hürriyet“ – wie auch einige weitere Medien – gehörten dem Großindustriellen Aydin Doğan. Als die Zeitung Erdoğan 2009 wegen Unregelmäßigkeiten bei Spendengeldern scharf angriff, setzte der Präsident die Steuerfahndung auf Doğans Konzern an. Unter der Androhung von angeblich über 1 Mrd. Dollar Steuerschuld ruderte „Hürriyet“ schließlich zurück, Doğan gab sein Amt innerhalb des Konzerns an seine Tochter ab. Heute ist „Hürriyet“ genauso gleichgeschaltet wie die offiziellen Staatsmedien. Das von der Gewerkschaft ver.di herausgegebene medienpolitische Magazin „M“ berichtete Ende 2016, dass mittlerweile ein Aufpasser der Regierungspartei AKP direkt in der Redaktion sitzt.

Einem Journalisten, der für ein regierungsnahes Medienunternehmen arbeitet, ist die inhaltliche Ausrichtung daher vorgegeben, ob er selbst diese teilt oder nicht. Würde er sich nicht daran halten, wäre er seinen Job schnell los. Die Zahl regierungskritischer Journalisten ohne Arbeit ist so hoch wie in kaum einem anderen Land der Welt.

Internet down

Can Dündar lebt seit Mai 2016 in Berlin. Der ehemalige Chefredakteur der Zeitung „Cumhuriyet“ war in seiner Heimat zu fünf Jahren und zehn Monaten Haft wegen Geheimnisverrats verurteilt worden, auch wegen Unterstützung einer terroristischen Organisation wurde ein Verfahren gegen ihn eröffnet. Der Grund: Dündar berichtete über mutmaßliche Waffenlieferungen der Türkei an islamistische Extremisten in Syrien. Der Journalist legte gegen das Urteil Revision ein und ging nach Deutschland, um seine regierungskritische Arbeit aus dem Exil weiterzuführen.

Dies tut er mit „Özgürüz“, einem neuen Onlinemedium, das Dündar mit Unterstützung des gemeinnützigen Recherchebüros Correctiv gegründet hat. „Özgürüz“ bedeutet übersetzt „Wir sind frei“, Texte werden sowohl auf Deutsch wie auch auf Türkisch veröffentlicht. Der Anspruch war und ist es, unabhängige Berichterstattung zu betreiben und damit türkischsprachige Leser hier und in der Türkei zu erreichen. Ende Januar 2017 ist „Özgürüz“ online gegangen, doch in der Türkei bleibt den Internetnutzern der Zugriff versperrt: Einen Tag vor dem offiziellen Start der türkischsprachigen Inhalte wurde die Seite in der Türkei geblockt.

Abschrecken lassen sich Can Dündar und seine Mitstreiter davon nicht, im Gegenteil: Sie werden ihre ganze Kraft dafür einsetzen, dem Volk im Vorfeld des für April angesetzten Verfassungsreferendums – mit dem Erdoğan mehr Macht auf seine Person bündeln will – all jene Nachrichten zu vermitteln, die es benötigt, ließ Dündar verlauten. Immerhin: Bei Twitter hat „Özgürüz“, dessen Logo aus vier sich gegenseitig haltenden Händen besteht, die das Hashtag-Zeichen bilden, drei Wochen nach dem Launch bereits mehr als 40.000 Follower generieren können, auf Facebook haben an die 30.000 Menschen die „Özgürüz“-Seite abonniert.

Grundsätzlich ist der Fall „Özgürüz“ jedoch ein gutes Beispiel für die Internetzensur, die der türkische Staat betreibt. Seit Inkrafttreten des Ausnahmezustandes ist die Sperrung von Facebook, Twitter und YouTube nach unvorhergesehenen Ereignissen wie Terroranschlägen bereits mehr Regel als Ausnahme. Im November 2016 wurden erstmals auch Messaging-Dienste wie WhatsApp und Skype geblockt. Damals waren öffentliche Proteste gegen die Festnahme von Parlamentsmitgliedern der kurdischen Partei HDP der Auslöser.

Tabus für Filmemacher

Der Film ist von allen Medien naturgemäß dasjenige, das am wenigsten auf Tagesaktualitäten reagieren kann. Die Situation der Meinungsfreiheit ist im türkischen Kino deswegen nicht weniger heikel, sie ist nur anders gelagert. „Im türkischen Film gibt es von je her zwei große Tabus“, erklärt Müge Turan, Filmkritikerin und Leiterin der Filmabteilung am Museum of Modern Art in Istanbul. Zum einen ist das Militär ein ausgesprochen heikles Thema, da das Militär – aus aktueller Sicht mag dies recht ironisch klingen – stets als Beschützer der Demokratie betrachtet wurde. Das Militär kritisch in einem Film zu thematisieren, ist aus diesem Grund nicht möglich. „Und das zweite Tabu ist natürlich die kurdische Identität“, führt Turan aus. „Sie können die kurdische Existenz immer noch nicht akzeptieren und tolerieren, auch nicht im Kino.“ Als Beleg hierfür nennt die Kritikerin die Ereignisse um den Dokumentarfilm Bakur auf dem Internationalen Filmfestival Istanbul im April 2015. Von den westlichen Medien weitgehend unkommentiert, kam es dort zu einem veritablen Skandal, als Bakur wenige Stunden vor seiner geplanten Aufführung aus dem Programm zurückgezogen wurde. Der Film von Çayan Demirel und Ertugrul Mavioglu handelt vom Alltag dreier kurdischer Freiheitskämpfer im Norden der Türkei. Die Festivalorganisatoren folgten mit dem Rückzug einer Aufforderung des türkischen Kulturministeriums, das ein fehlendes Registrierungszertifikat bemängelte. „Dieses Dokument ist eigentlich immer notwendig, aber das Festival hatte sich in der Vergangenheit nie groß darum gekümmert und auch viele Filme gezeigt, die das Zertifikat nicht hatten“, sagt Turan. „Das hatte nie irgendwen interessiert, doch diesmal ging es eben um einen Dokumentarfilm, der Mitglieder der PKK zeigt. Da reagierte das Ministerium sehr sensibel und hat den Festivalverantwortlichen mit Polizei gedroht, woraufhin diese den Film zurückzogen.“ Die Folge war jedoch ein breiter, in dieser Geschlossenheit unerwarteter Protest vieler türkischer Filmschaffender, die in dem Vorgang einen Akt staatlicher Zensur sahen. Regisseure und Produzenten von 22 Wettbewerbsfilmen zogen ihre Beiträge zurück und veröffentlichten eine gemeinsame Erklärung, in der sie die immer stärkeren Eingriffe des Staates in die Meinungsfreiheit anprangerten. Die Jurys der Wettbewerbssektionen unterstützten die Filmemacher, 2015 wurden in Istanbul keine Preise verliehen.

Rückblickend betrachtet waren die Sorgen der Künstler mehr als begründet. Zwei Jahre später ist in der Türkei – und gleichzeitig auch in Deutschland – ein Film mit gänzlich anderer Ausrichtung gestartet: Reis, was übersetzt „Der Präsident“ bedeutet, zeichnet das Leben Recep Tayyip Erdoğans nach. Pathetisch, gänzlich unkritisch und – auch wenn Erdoğan selbst jede Unterstützung des Filmprojekts verneint – Anfang März 2017 genau zum richtigen Zeitpunkt in die Kinos gekommen, um kurz vor dem Verfassungsreferendum Werbung für ihn zu machen.

Ausblick

Wie geht es weiter mit der Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei? Die Aussichten scheinen alles andere als gut. Wenn Sie diese Ausgabe der tv diskurs in den Händen halten, wissen Sie um den Ausgang des Verfassungsreferendums, das im April stattgefunden hat. Bei Redaktionsschluss ist diese Frage noch offen. Das Rennen, so die Prognosen, sollte eng werden – auch deshalb war die Regierung so sehr auf Stimmenfang bei den in Deutschland beheimateten Wählern. Anne Renzenbrink von Reporter ohne Grenzen betrachtet dies – unabhängig vom letztlichen Ausgang – als gutes Zeichen: „Dass trotz all der Schließungen und Zensur immer noch so ein erheblicher Teil der Bevölkerung nicht mit Erdoğan konform geht, spricht doch für die Menschen in der Türkei und gibt Hoffnung.“ Um die Meinungsfreiheit in dem Land langfristig zu gewährleisten, sei aber vor allem eine klare Haltung auf politischer Ebene gefordert. Dass die Bundesregierung im Fall Yücel so deutliche Kritik übt, sei begrüßenswert, „doch genauso konkret sollten auch alle anderen inhaftierten Journalisten beim Namen genannt und auf ihr Schicksal aufmerksam gemacht sowie für ihre Freilassung protestiert werden“. Ob sich Erdoğan und seine Regierung davon beeindrucken lassen, muss jedoch bezweifelt werden.