„Die beste Zeit ist jetzt gerade!“

Barbara Weinert im Gespräch mit Michel Abdollahi

Michel Abdollahi ist Journalist, Literat, Performancekünstler und Maler. 1981 in Teheran geboren, kam Abdollahi 1986 nach Hamburg und lebt seitdem in der Hansestadt. Er studierte Rechtswissenschaften und gründete 2005 zusammen mit einem Freund die Poetry-Slam-Reihe Kampf der Künste. Als Reporter für das NDR-Kulturjournal sorgt er immer wieder für Aufsehen, so etwa mit seiner Straßenaktion Ich bin Muslim. Was wollen Sie wissen? Für seine Reportage Im Nazidorf wurde Abdollahi Anfang 2016 mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. Er will mit seiner Arbeit ein Zeichen setzen gegen Rassismus, Hass und Vorurteile. tv diskurs sprach mit ihm über die Stimmung im Land, über die Rolle der Medien und über den Umgang miteinander im Internet.

Printausgabe tv diskurs: 21. Jg., 2/2017 (Ausgabe 80), S. 40-43

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„Gefühle“ spielen in vielen politischen Debatten der letzten Wochen und Monate eine große Rolle. Mancherorts scheinen sie mittlerweile sogar mehr zu zählen als überprüfbare Fakten. Was bedeutet das für unsere Gesellschaft?

Ich glaube, wir müssen lernen, unsere Gefühle hier etwas abzustellen, weil sich derzeit im politischen Geschäft alle zwei Minuten etwas zu verändern scheint und unsere gefühlsmäßigen Einschätzungen dann ebenso wechselhaft sind. Die politische Sicherheit, die wir zumindest in Deutschland bis vor Kurzem hatten, ist etwas verschwunden. Alles ist ein wenig unberechenbarer geworden und wir werden noch etwas Zeit brauchen, uns an diesen Zustand zu gewöhnen. Aus dem Iran kenne ich diese Situation schon seit vielen Jahren. Wir haben jetzt Begriffe dafür, wie z.B. „Verschwörungstheorie“; als ich ein kleiner Junge war, gab es dafür noch keine Bezeichnungen. Aber es war ganz normal, dass man nicht daran geglaubt hat, was der Staat einem erzählt. Es gab immer viele Unsicherheiten, weil die Menschen der Meinung waren, sie müssten selber ganz viel drum herumfühlen. Man vertraute z.B. auch der Presse nicht. Gar nicht deshalb, weil man ihr vorwarf zu lügen, sondern einfach, weil sie bestimmte Informationen nicht haben konnte, Informationen, die nur den Mächten im Hintergrund vorbehalten waren, die dort die Fäden zogen. Das bedeutet, ich bin quasi mit diesen „gefühlten Wahrheiten“ groß geworden. Im orientalischen Raum kennt man das alles sehr gut. Nun haben wir diese Stimmung auch in Deutschland und ich schaue ein wenig mit Sorge darauf, weil ich immer das Gefühl hatte, dass gerade hier das faktenorientierte und ‑basierte Denken zu der wichtigen Rolle beigetragen hat, die das Land auf wissenschaftlichem, wirtschaftlichem und künstlerischem Gebiet hat.

Nicht wenige Menschen glauben z.B., dass es in Deutschland eine übergeordnete Medienzensurmacht gibt. Haben Sie eine Erklärung für diese Entwicklungen?

Vermutlich ist es für viele sehr bequem. Man muss seinen Kopf nicht groß einschalten, wenn man Dinge nur fühlt. Ich glaube nicht, dass diese Menschen versuchen, das Große und Ganze zu verstehen, sondern sie bewerten Dinge einfach nach ihren eigenen Emotionen und vor dem Hintergrund der persönlichen Situation. Da ist es dann relativ einfach zu sagen: „Ich glaub das nicht.“ Das Schmerzhafte an der Situation beginnt an dem Punkt, an dem es darum geht, faktenbasierte Argumente und Wissen auszutauschen. Wenn man darauf keine Lust hat, nicht über ausreichend Bildung verfügt oder Dinge nicht glaubt, einfach, weil man sie eben nicht glauben möchte, dann macht es das Leben ziemlich bequem. Viele Leute lesen heute lieber zwei Zeilen in der „BILD-Zeitung“, als einen langen Artikel in der „ZEIT“– und auf dieser Grundlage erklären sie sich dann die Welt. Oder sie suchen sich nur diejenigen Informationen, die sie gerade gut finden, den Rest blenden sie aus. Das kann nicht gesund sein – weder in einer Beziehung noch in der Familie oder in der Politik. Irgendwann kracht es dann.

Ist die Sehnsucht nach einfachen Antworten auch ein Grund dafür, dass sich viele ein „Früher“ zurückwünschen? Der niederländische Musiker Herman van Veen sang einst: „So schön es früher war, ist es früher nie gewesen.“ Das scheinen einige ganz anders zu sehen …

Das Früher war nie schöner oder besser. Die beste Zeit ist jetzt gerade. Der kürzlich verstorbene Hans Rosling hat sehr eindrücklich aufgezeigt, wie pessimistisch der Mensch ist und wie gut Dinge doch funktionieren, wie viel Armut eingegrenzt wurde, wie viel gegen Kindersterblichkeit getan wurde, das Ozonloch ist verschwunden, das Waldsterben ist vorbei. Die Sehnsucht nach früher kann ich nur im Sinne einer Nostalgie nachempfinden, die in begrenztem Rahmen ja auch völlig in Ordnung ist.

Versuchen die Medien in Deutschland, die Stimmung im Land eher abzubilden? Oder befeuern sie sie in eine bestimmte Richtung?

Ich finde, dass die deutschen Medien momentan ziemlich schwimmen. Es ist schwierig – und zwar nicht, weil sie es selbst verschuldet haben, sondern weil wir alle ein wenig überrumpelt worden sind. Das ist wieder die Sache mit den Fakten: Wenn ich mit jemandem über ein Thema diskutiere, versuche ich, ihn mit Fakten zu überzeugen. Wenn er das nicht versteht, versuche ich, es herunterzubrechen und ganz ausführlich zu erklären. Es handelt sich ja schließlich um einen Fakt, ich habe mir das nicht ausgedacht. Aber was mache ich, wenn das nicht funktioniert, wenn ich merke, dass es der andere gar nicht wahrnimmt? So geht es derzeit Teilen der Medien, die nicht mehr wissen, was sie machen sollen. Sie versuchen es mit einfachen Artikeln, mit komplizierten Artikeln, mit Analysen, mit Kommentaren. Natürlich versuchen sie auch ein Stück weit, sich anzupassen, weil sie Klicks generieren müssen. Gerade in unserem Internetzeitalter müssen sie für sich einen neuen Weg finden. All das, was wir jetzt mit Facebook, Twitter und Co. sehen, ist ja noch sehr jung. Insofern habe ich auch gar nicht die Erwartung, dass es bereits ein tolles System gibt, das alles auffängt. Die Kollegen sind wirklich bemüht, ein objektives Bild der aktuellen Landschaft zu zeichnen. Was willst du denn machen, wenn sich jemand partout weigert, zu lesen, was du schreibst, oder der Meinung ist, es sei alles systemgesteuert? Man kann nur weiter dagegenhalten, bis die Leute erkennen, dass es nicht gesteuert ist, sondern dass die Medien als vierte Kraft und Macht im Staat dafür da sind, den Bürgern zu helfen und Dinge aufzudecken. Dieses Vertrauen ist momentan leider verloren gegangen. Die Anhänger der Fake News und „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“-Einstellung sind derzeit sehr laut und präsent. Natürlich hört man diejenigen, die laut schreien, am meisten. Aber manchmal sind das auch nur ganz wenige. Das dürfen wir nicht vergessen.

Auf Pegida-­Kundgebungen skandieren Demonstranten „Volksverräter“ oder „Lügenpresse“ – Begriffe, die mir persönlich das letzte Mal wahrscheinlich im Geschichtsunterricht begegnet sind. Warum befinden sich derlei Wörter plötzlich wieder im Sprachgebrauch und vor allem: Wie gehen wir damit um?

Es gibt dort Leute im Hintergrund, die genau wissen, wie bestimmte Mechanismen funktionieren und dass man mit besonderer Aufmerksamkeit rechnen kann, wenn man bestimmte Kampfbegriffe aus finsterer Zeit benutzt. Das funktioniert einfach. Die Menschen können mal ordentlich Luft ablassen und die Wörter lassen sich zudem einfach rufen. Aber hier handelt es sich eben nicht um eine friedliche Demonstration von Leuten, die die Nase voll haben. Mich erinnern sie immer wieder auch an trotzige kleine Kinder, die Grenzen austesten wollen. Zudem ist Pegida nicht eine homogene Strömung, mit der wir es zu tun haben. Schaut man sich den Schilderwald dort an, begegnet man den verschiedensten Forderungen von „Mehr Mütterrente“ bis „BRD abschaffen“ oder „Putin raus aus der Ukraine“. Wir müssen lernen, mit diesen Leuten umzugehen. Die aktuellen Teilnehmerzahlen liegen bei unter 1.000. Damit kann ich in einer Demokratie leben.

Sie sind viel in sozialen Netzwerken aktiv. Haben Sie den Eindruck, dass Eigenschaften wie Scham und Respekt hier verloren gegangen sind oder werden sich Werte und Normen mit der Zeit auch online etablieren?

Ich glaube, dass sich vieles hier zum Positiven entwickeln wird. Abgesehen davon, kenne ich es persönlich auch, dass ich – wenn ich wirklich erzürnt bin – eine Mail in einem Ton schreibe, in dem ich es niemals einer Person ins Gesicht sagen würde. Ich habe für mich gelernt, dass ich die Mail nicht gleich abschicke, sondern vorher eine Runde um den Block laufe und sie mir dann noch einmal durchlese. Was ich aber nicht kenne, ist, dass man Menschen aufgrund ihrer Religion oder ihrer Herkunft einen derartigen Hass entgegenbringt, wie es online oft geschieht. Das hat mir anfangs große Angst gemacht, bis ich irgendwann gesehen habe, dass es Schritt für Schritt weniger geworden ist – spätestens dann, als auch der Justizminister verstanden hat, dass wir schneller und unkomplizierter handeln und den Leuten klarmachen müssen, dass sie im Netz genauso wenig Menschen beleidigen können wie auf der Straße. Ich habe auch das Gefühl, dass sich seit Trumps Wahl etwas im positiven Sinne geändert hat. Vielleicht sind durch diesen Wahlerfolg ein paar mehr Leute wachgerüttelt worden. Unabhängig davon muss ich auch sagen: Es gibt Widerstand im Netz! So viele Menschen schreiben mir täglich von immer neuen Aktionen und Hashtags und davon, wie sie Trolle und Fake-Profile ausfindig machen. Es ist nicht so, dass der anständige Teil der Bevölkerung nicht reagiert. Die „Anständigen“ sind halt einfach nicht so laut und sichtbar wie diejenigen, die wüst beleidigen. Dass sich das Thema irgendwann völlig erledigen wird, glaube ich nicht. Beleidigungen in der Öffentlichkeit gibt es ja auch nach wie vor, aber ich denke, irgendwann ist es genug.

Was Meinungsäußerungen angeht, scheint man sich derzeit quasi zwischen zwei Polen zu bewegen: die einen, die sich nur noch hinter Floskeln verstecken, aus Angst gegen Regeln der Political Correctness zu verstoßen, und die anderen, die gern den Satz: „Das muss man doch mal sagen dürfen …“ vorwegschieben, um dann mitunter ziemlich Unterbelichtetes – bis hin zu Diffamierungen und rassistischen Äußerungen – von sich zu geben.

Ich habe vor Kurzem in einer Diskussionsrunde den Begriff „Altparteien“ verwendet, weil ich gerade in diesem Moment nicht mehr wusste, welches das Naziwort war und welches dasjenige, das wir verwenden wollen. Aufgebracht korrigierte mich eine andere Teilnehmerin, dass ich „etablierte Parteien“ sagen müsse und nicht das böse Wort „Altparteien“ verwenden dürfe. Ja, verdammt! Wenn so etwas passiert, sitze ich selbst dort und denke: Ich beschäftige mich den ganzen Tag mit diesen Dingen, was soll denn die arme Oma von nebenan machen, die gar nicht mehr weiß, was sie sagen soll. Aus der Furcht, etwas Falsches zu sagen, wird dann irgendwann Wut und Frust. Unsere Politik hat daran sicherlich auch ihren Anteil, nicht in dem Sinne, dass sie es aktiv gesteuert hat, sondern es ist über die Jahre hinweg einfach passiert. Nicht umsonst wünschen sich Menschen jene Politiker wie Brandt, Schmidt oder Wehner zurück, die eine Diskussionskultur pflegten, in der man durchaus Tacheles geredet hat. Wir sind mittlerweile so weit, dass man in einer „korrekten“ Diskussion im Endeffekt gar nichts mehr sagen kann. Wenn man überlegt, ob man beim Gendern nun Sternchen, Seiten- oder Bindestrich verwendet, können wir dieser Diskussion vielleicht noch etwas Witziges abgewinnen, aber es gibt genügend Leute, die da den Anschluss verlieren. Politiker verstecken sich gern hinter „Politiksprech“, Merkel z.B. benutzt immer wieder viele Floskeln, Konkretes sagt sie kaum. Das bedeutet, man weiß überhaupt nicht, woran man ist. Aber es ist nicht Aufgabe der Medien, die Reden der Bundeskanzlerin zu interpretieren.

Michel Abdollahi ist Journalist, Literat, Performancekünstler und Maler.

Barbara Weinert ist Redakteurin der tv diskurs.