Darf man das zeigen?

Grundzüge einer philosophischen Ethik des Bildes

Arnd Pollmann

Dr. Arnd Pollmann ist Philosoph, Buchautor und u.a. Mitherausgeber des Onlinemagazins www.slippery-slopes.de.

Angesichts der fortschreitenden Gewöhnung an eine massenmediale Reizüberflutung durch Bilder werden heute immer weniger Abbildungen noch den jeweils persönlichen Schutzwall des Erträglichen durchbrechen und damit die Grenze des gerade noch Zumutbaren überschreiten. Und doch werden viele Menschen vereinzelt, ob im Fernsehen, Kino, Internet oder in den Printmedien, mit Bildern konfrontiert, die so unmittelbar schrecklich, grausam oder auch obszön wirken, dass sich mit ihnen fast zwangsläufig die Frage nach der Verantwortung für das Zeigen dieser Bilder aufdrängt.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 1/2018 (Ausgabe 83), S. 20-25

Vollständiger Beitrag als:

Kontexte der Verantwortung

Ein großer weißer Truck überrollt Menschen an der Strandpromenade von Nizza, ein amerikanischer Soldat wird von Kämpfern des IS geköpft, ein 3‑jähriger Flüchtlingsjunge liegt tot am Strand. Darf man das zeigen? Darf man es nicht? Ist es erlaubt, auch wenn man es lassen könnte? Oder soll man, ja, muss man gar?

Auch wenn es auf den ersten Blick so aussehen mag, als bewegte man sich mit diesen Fragen unumwunden innerhalb des argumentativen Bezugsrahmens von Ethik und Moral, so täuscht dieser Eindruck doch. Denn entsprechende Verantwortlichkeiten im Umgang mit problematischen Bildern ergeben sich in ganz unterschiedlichen Kontexten: Fotoreporter, Fotokünstler, Zeitungsredaktionen, Verlage, Fernsehzuschauer, Juristen und Ethiker sehen sich mit diesen Fragen auf jeweils ihre Weise konfrontiert, und sie werden dabei untereinander oft uneins sein. Die journalistische Frage etwa, ob ein Bild „authentisch“ ist, ob es die zu berichtenden Informationen wahrhaftig illustriert und daher gedruckt werden sollte, ist eine ganz andere Frage als beispielsweise die spezifisch künstlerische, ob das betreffende Bild ästhetisch „gelungen“ ist und künstlerischen Ansprüchen genügt. Das Anliegen einer Zeitungsredaktion hingegen, den teilweise hohen Ansprüchen ihrer akademischen Leserschaft zu genügen, muss sich keineswegs mit den Interessen des Verlags, die Auflage zu erhöhen, decken. Was dagegen Fernsehzuschauerinnen und ‑zuschauer sehen wollen, ist bekanntlich nicht immer das, was Juristinnen und Juristen für erlaubt oder aber justiziabel halten. Und selbst wenn alle der zuvor genannten Personengruppen aus jeweils ihren Gründen einig wären, dass ein bestimmtes Foto gezeigt werden darf – nehmen wir hier nur das bereits erwähnte Foto des 3‑jährigen Aylan Kurdi –, so werden am Ende doch zumindest manche Ethikerinnen und Ethiker etwas gegen die betreffende Veröffentlichung haben.

Fragen der Verantwortung im Umgang mit heiklen Bildern sind nicht nur ethische Fragen.“

Daraus folgt zunächst: Fragen der Verantwortung im Umgang mit heiklen Bildern sind nicht nur ethische Fragen. Auch auf anderen fachlichen Gebieten und in anderen argumentativen Begründungszusammenhängen stellt sich die Frage, welche Bilder gezeigt werden sollten und welche nicht – und dann jeweils auch auf andere Weise. Die philosophische Ethik jedoch mag hier eine korrigierende, ja, möglicherweise sogar „vetorechtliche“ Rolle übernehmen, sobald schreckliche, grausame oder obszöne Bilder – aus jeweils anderen Begründungslogiken heraus – gezeigt werden dürfen. Damit liegt das Problem auf dem Tisch, erst noch ein wenig genauer bestimmen zu müssen, was das Spezifische einer ethischen Betrachtung von problematischen Bildern ist und was die ethische bzw. moralische Verantwortung im Umgang mit diesen Bildern von etwaigen journalistischen, künstlerischen, redaktionellen, verlagsökonomischen, juristischen oder anderen Verantwortlichkeiten unterscheidet.
 

Schreckliche Bilder?

Um also genauer den Verantwortungsbereich einer Ethik des Bildes (hier und im Folgenden: Foto und Film) eingrenzen zu können, ist zunächst ein naheliegendes Missverständnis zu vermeiden. Die „Wucht“ schrecklicher Bilder wirkt gelegentlich derart unmittelbar, dass man geneigt sein könnte, die Bilder selbst für ethisch bedenklich zu halten. Doch dieser Eindruck ist aus drei Gründen irreführend:

  1. Zwar mögen die betreffenden Bilder teilweise extreme Grausamkeiten zeigen, aber diese Grausamkeiten (sind) geschehen und werden auf dem Bild lediglich dokumentiert: ein mit einem Truck ausgeführter Terroranschlag, Exekutionen seitens des IS, ein toter Flüchtlingsjunge, dem die Welt nicht rechtzeitig zur Hilfe kam. „Schrecklich“ ist folglich weniger das dokumentierende Bild als vielmehr die jeweils dokumentierte Grausamkeit, von der wir unter Umständen gar nichts wüssten, wenn es davon nicht ein Abbild gäbe.
  2. Fraglich war bislang jedoch vor allem, ob man die betreffenden Bilder zeigen soll. Damit ist bereits vorausgesetzt, dass es ethisch oder moralisch falsch sein kann, dies zu tun. Aber auch dann würde gelten: Nicht das Bild als solches ist ethisch bedenklich, sondern gegebenenfalls der Akt des Zeigens, der Veröffentlichung, Verbreitung, Vermarktung, des Konsumierens oder bereits der ursprüngliche Akt des Fotografierens selbst (falls dieser etwa die Intim- oder Persönlichkeitssphäre des fotografierten Menschen verletzt haben sollte).
  3. Dass Bilder nicht per se etwas ethisch und moralisch Bedenkliches haben, sieht man auch daran, dass mitunter ein und dasselbe Bild in sehr verschiedenen Veröffentlichungskontexten ethisch unterschiedlich bewertet werden muss. Das Foto einer grausamen Verletzung oder Verstümmelung etwa mag in einem medizinischen oder auch kriminologischen Zusammenhang selbstverständlich und notwendig sein, während es auf Facebook, Twitter oder in der „Bild-Zeitung“ reißerisch oder gar verwerflich anmutet.

Diese Hinweise legen die Vermutung nahe, dass die infrage stehenden Bilder an sich – im Gegensatz etwa zu deren Inhalten oder auch zu den jeweiligen Absichten, die man mit ihrer Produktion und Veröffentlichung verfolgt – ethisch „neutral“ sind. Bilder sind „Medien“. Mit ihnen soll eine Botschaft vermittelt werden. Der Inhalt dieser Botschaft mag schrecklich sein. Auch kann der Botschafter mit der Vermittlung, d.h. dem Veröffentlichen, „Teilen“, Weiterleiten dieser Botschaft unmoralische Absichten hegen. Aber das Medium selbst ist weder gut noch anrüchig. Es kommt vielmehr allein auf die mithilfe dieses Mediums dokumentierten Geschehnisse und die Art der Verwendung dieser Medien an. Kurzum: Es sind vornehmlich die jeweils dokumentierten oder aber beim Produzieren und Zeigen dieser Fotos ausgeführten Handlungen, die einer ethisch-moralischen Bewertung unterzogen werden können. Dies gilt im Übrigen für philosophische Theorien der Ethik und der Moral ganz allgemein: Auch hier werden vornehmlich Handlungen, d.h. Akte wissentlichen und willentlichen Tuns, als gut oder schlecht bewertet. Beispielsweise: Ich lüge (und das mag schlecht sein), ich verletze, beleidige, demütige, beklaue oder diskriminiere jemanden (und das mag schlecht sein), ich helfe, beachte, respektiere oder schone jemanden (und das mag gut sein) etc. Auf das spezifische Unternehmen einer Ethik des Bildes übertragen: Es geht auch hier nur um ein moralisches Urteil in Bezug auf Handlungen, die mit den Bildern verknüpft sind.
 

Eine komplexe Ansichtssache

Die Frage, ob und wann eine auf Bildern dokumentierte oder aber mit der Veröffentlichung dieser Bilder zusammenhängende Handlung moralisch bedenklich ist, scheint sehr oft „Ansichtssache“ zu sein. Konfrontiert mit der soeben bereits skizzierten und konfliktreichen Vielfalt möglicher Begründungszusammenhänge, von denen der ethisch-moralische zunächst nur einer ist, heißt es dann oft, es bedürfe bei der Veröffentlichung bzw. Nichtveröffentlichung eines problematischen Fotos stets der „Abwägung“ zwischen unterschiedlichsten Gründen und Interessenlagen, und für eben diese Abwägung gebe es kein „Patentrezept“. Das sind verlegen wirkende Binsenweisheiten, die meist lediglich eine entsprechende Ratlosigkeit kaschieren und in dieser allgemeinen Form keinerlei bildethische Orientierung stiften. Vielmehr bedarf es einer genaueren Klärung, erstens, was und, zweitens, wie abgewogen werden muss, wenn ein Foto gezeigt werden soll. Beginnen wir mit der ersten Frage, d.h. mit dem „Was“ der Abwägung und konzentrieren wir uns dabei, aus Platzgründen, auf Akte der Produktion, Veröffentlichung und Verbreitung von Bildern mit problematischem Inhalt. Im konkreten Abwägungsfall sind mindestens vier sehr unterschiedliche Perspektiven und Interessenlagen voneinander abzugrenzen:

  1. Zunächst wäre auf die Perspektive und Interessenlage der jeweils fotografierten Personen (und deren Angehörigen) zu achten. Sie besitzen individuelle Rechte auf Selbstbestimmung und gegebenenfalls auch auf Selbstvermarktung, auf Schutz ihrer Persönlichkeit und Intimsphäre, ihres sozialen Ansehens und ihrer Menschenwürde. Übrigens sind die meisten dieser Ansprüche nach Auffassung vieler Ethikerinnen und Ethiker auch dann als verbindlich zu betrachten, wenn es sich bei den Betroffenen um Kinder und Tote handelt.
  2. Auch die fotografierende Person hat Rechte und Interessen. Als Fotojournalistin und ‑journalist etwa orientiert man sich an den Prinzipien der Augenzeugenschaft und der Authentizität, als Fotokünstlerin bzw. ‑künstler hingegen mag man sich einer bestimmten „Schule“ und entsprechenden ästhetischen Standards verpflichtet sehen, und beide Gruppen mögen vermeintlich profane Interessen des existenziellen „Broterwerbs“ verfolgen, die es aber bei der Abwägung natürlich ebenfalls zu berücksichtigen gilt.
  3. Hinzu kommt die das Foto gegebenenfalls präsentierende Person in den dafür verantwortlichen Redaktionen, Sendern, Verlagsanstalten oder auch Internetforen. Auch hier sind die Motiv- und Interessenlagen der Akteure meist vielschichtig: Es kann um Verpflichtungen und Aufgaben der Information und Aufklärung gehen, um moralische Appelle und ein „Wachrütteln“ der Öffentlichkeit, aber auch um kommerziellen Eigennutz, um Auflage und Profit.
  4. Last, but not least: die das Foto rezipierende Person. Wenn die unter Punkt drei genannten Akteure entschieden haben sollten, das betreffende Bild zu verbreiten, dann wird dieses Bild – ob freiwillig oder unfreiwillig – von bisweilen sehr vielen Menschen wahrgenommen, betrachtet und gegebenenfalls auch weiter „geteilt“. Auch aufseiten dieser Rezipienten sind dann nicht nur Bedürfnisse nach Information und Aufklärung zu verzeichnen. Die meisten Menschen haben zudem egoistische und mitunter regelrecht voyeuristische Unterhaltungsansprüche, und sie weisen darüber hinaus stets auch persönliche Grenzen der Zumutbarkeit und des für sie Erträglichen auf.

Diese vielen verschiedenen Ansprüche mögen zwar nicht allesamt gleichermaßen sympathisch wirken, aber das Problem ist: Sie sind zunächst allesamt auf je ihre Weise legitim. Eine ethisch komplexe Abwägungsentscheidung, ob und in welchem Kontext ein bestimmtes Bild gezeigt werden darf, hätte sie daher allesamt – und vermutlich auch noch weitere – zu berücksichtigen und gegeneinander abzuwägen. Allerdings kann sich dann im konkreten Abwägungsfall zeigen, dass mindestens eine dieser Erwägungen bei genauerer Betrachtung schwerer wiegt als andere, diese anderen Erwägungen demnach „übertrumpft“ und für die Entscheidung entsprechend ausschlaggebend sein muss. Und genau an diesem Punkt, an dem die Frage auftaucht, ob, wann und warum eine dieser vielen Erwägungen die jeweils anderen zu übertrumpfen vermag, herrscht in der massenmedialen Öffentlichkeit teilweise große Verlegenheit, Ratlosigkeit und Verwirrung. Dieses Durcheinander wiederum ruft die philosophische Ethik auf den Plan, die diesbezüglich für argumentative Orientierung sorgen soll. Damit aber sind wir bei der zweiten und bislang noch ausstehenden Frage nach dem „Wie“ der Abwägung angelangt.
 

Die Priorität der ersten Person

Im vermeintlichen Wirrwarr der vier genannten Perspektiven – die fotografierte, die fotografierende, die präsentierende und die rezipierende Person – scheint am Ende dann doch eine dieser vier Perspektiven, zumindest aus Sicht der zeitgenössischen Ethik, eine gewisse Priorität zu besitzen. Dies liegt vor allem daran, dass die zeitgenössische Ethik in dem Sinn „modern“ ist, dass sie das „autonome“, das sich selbst bestimmende und mit grundlegenden Freiheitsrechten ausgestattete „Individuum“ gegen die Übermacht und mögliche Übergriffe der Gesellschaft, des Kollektivs, des „Systems“, der „Sitte“ etc. in Schutz nehmen will. Es ist die Perspektive der auch oben bereits wie selbstverständlich an erster Stelle genannten, der fotografierten, abgebildeten Person, der nach Auffassung vieler Ethikerinnen und Ethiker in schwierigen Abwägungsfragen ein gewisser Vorrang gebührt: Die Interessen derjenigen Person, die jeweils fotografiert wurde (und zugleich auch die Interessen ihrer Angehörigen), gehen in vielen Fällen vor; abgesehen von dem auch juristisch nicht immer leicht zu identifizierenden Fall, dass es sich um „Personen des öffentlichen Lebens“ oder auch der „Zeitgeschichte“ handelt.

Dieser Vorrang der ersten Person lässt sich schon daran ablesen, dass Bilder, die keine leidenden Menschen zeigen (die schwierige Frage nach den Ansprüchen leidender Tiere lasse ich an dieser Stelle außen vor), nur selten überhaupt als ethisch-moralisch problematisch eingestuft werden. Sicher, auch eine von Bomben zerstörte Stadt ganz ohne Menschen, ein zertrümmerter Weihnachtsmarkt ohne Besucher oder auch eine leere Folterkammer mögen auf Bildern „schrecklich“ wirken, doch diese Bilder werden meist nur dann eine Diskussion um ein mögliches Verbot ihrer weiteren Verbreitung aufkommen lassen, wenn darauf eben doch auch leidende oder sich zumindest in unvorteilhafter Lage befindliche Menschen zu sehen sind, von denen fraglich ist, ob sie oder ihre Angehörigen auch selbst der Veröffentlichung und Verbreitung dieses Bildes zugestimmt haben oder zustimmen würden, wenn man sie (noch) fragen könnte. Diese Mutmaßung der Nichteinwilligung scheint aus ethischer Sicht ein wichtiges erstes „Ausschlusskriterium“ zu sein, das eine Art Vetorecht der ethisch-moralischen Betrachtung begründet: Wenn tatsächlich vieles dafür spricht, dass die jeweils abgebildeten Menschen der Veröffentlichung und Verbreitung nicht selbst zugestimmt haben oder zustimmen würden, falls man sie fragen könnte, so ist das Zeigen oder „Teilen“ dieser Fotos schlicht nicht erlaubt. Diese Auffassung mutet enorm konsequenzreich an. Denn die fraglos meisten Menschen, denen wir alltäglich auf unzähligen Fotos begegnen, sind weder Personen des öffentlichen Lebens oder der Zeitgeschichte, noch haben sie der Verbreitung der betreffenden Bilder ausdrücklich zugestimmt (was für „einwilligungsunfähige“ Menschen, z.B. Kinder oder Tote, bereits per definitionem gilt).
 

Die illustrierte Menschenwürde

Aber selbst, wenn die betreffenden Personen der Veröffentlichung und Verbreitung der Bilder zugestimmt haben, was z.B. immer dann der Fall ist, wenn es sich um selbst veröffentlichte „Selfies“ handelt, mag ein zweites Ausschlusskriterium „trumpfen“. Gemeint ist die Menschenwürde, die die Gesellschaft bisweilen auch direkt gegen die vermeintlich autonome Entscheidung der Betroffenen in Schutz nehmen muss. Auch wenn teilweise heftig umstritten ist, was genau wir unter der „Würde“ des Menschen zu verstehen haben: Wenn sich plausibel zeigen lässt, dass die – unfreiwillige, aber mitunter eben auch freiwillige – Produktion, Veröffentlichung und Verbreitung bestimmter Bilder auf empfindliche Weise die Würde der abgebildeten Personen verletzt – man denke hier etwa an Bilder, die im Zusammenhang von Mobbing, Demütigungen, Sexualkontakten, Besäufnissen etc. entstanden sind –, so ist ein starker oder gar „absoluter“ Grund gegeben, die Publikation der Bilder zu unterlassen, zu verhindern oder auch zu verbieten. Dies mag, wie gesagt, selbst dann gelten, wenn die betroffene Person selbst gar keine Einwände gegen die Veröffentlichung hat. So werden auf Facebook, Instagram, Snapchat oder Twitter tagtäglich unzählige solcher Bilder veröffentlicht, und zwar gelegentlich eben auch von den Betroffenen selbst, die diese Personen in derart unvorteilhaften oder gar „entwürdigenden“ Situationen zeigen, dass das Präsentieren dieser Bilder einem (selbst‑)schädigenden Akt gleichkommt, der „paternalistische“ Eingriffe oder gar Publikationsverbote im Namen der Würde zu rechtfertigen vermag.

Allerdings ist abschließend darauf hinzuweisen, dass im Rahmen ethisch-moralischer Diskussionen um mögliche Publikationsverbote nur selten so viel Einigkeit besteht wie im extremen Fall eindeutiger Verstöße gegen das Gebot zur Achtung der Menschenwürde. Aus Sicht der philosophischen Ethik ergibt sich diese Uneinigkeit zum einen aus teilweise recht unterschiedlichen Grenzziehungen zwischen dem, was ausdrücklich verboten gehört, und dem, was lediglich von „schlechtem Geschmack“ zeugt, aber doch erlaubt sein sollte. Fragen der Moral und Fragen des Stils sind „zwei unterschiedliche Paar Schuhe“. Zum anderen jedoch resultiert die erwähnte Uneinigkeit aus dem von ethischen Laien bisweilen unterschätzten Umstand, dass „die“ philosophische Ethik keineswegs eine einheitliche, in sich homogene Disziplin ist. Im Gegenteil: Fällt z.B. ein Utilitarist, der auf die Maximierung des Kollektivnutzens fokussiert ist, ein bildethisches Urteil („Dieses Bild muss gezeigt werden, damit es die Öffentlichkeit wachrüttelt“), so mag dieses Urteil völlig anders ausfallen als das einer waschechten Kantianerin („Die Öffentlichkeit muss zwar wachgerüttelt werden, aber niemals auf Kosten der Würde des abgebildeten Individuums“). Eine sich an Aristoteles orientierende Tugendethikerin hingegen mag eine völlig andere Expertise abgeben („Es ist ein Zeichen journalistischer Redlichkeit, hier nichts zu verschweigen“) als ein an Schopenhauer geschulter Mitleidsethiker („Das Leiden der Opfer und ihrer Angehörigen zu übergehen, wäre nichts als egoistisch“).

Die Ethik des Bildes hat […] zuvorderst die Interessen und Verletzlichkeiten der jeweils abgebildeten Personen in Schutz zu nehmen.“

Jede ethisch-moralische Bewertung von Bildern ist „theorieabhängig“ in dem Sinn, dass in den entsprechenden Urteilen jeweils eigene Überzeugungen davon zum Ausdruck kommen, worum es in Ethik und Moral vornehmlich geht. Mit Blick auf diese Frage kann man sehr wohl unterschiedlicher Meinung sein. Für die einen geht es um Glück, Würde, Freiheit oder Autonomie, für andere um Rücksicht, Achtung, Nichtschädigung oder Mitgefühl, für wieder andere um Nutzenmaximierung oder gesellschaftlichen Wohlstand. Kurzum: Die teilweise schwierige Abwägung und dann auch die oft korrespondierende Uneinigkeit im Umgang mit problematischen Bildern ergeben sich immer auch daraus, dass selbst innerhalb der philosophischen Ethik teilweise sehr unterschiedliche Moralauffassungen propagiert werden. Es gibt hier keine moralischen „Wahrheiten“, die man bloß aufspüren müsste, sondern berechtigte Meinungsverschiedenheiten, die zu öffentlichen Debatten, aber auch juristischen Entscheidungen zwingen, in denen sich dann nicht bloß argumentative Überlegenheiten, sondern stets auch handfeste politische Kräfteverhältnisse spiegeln.

Fassen wir zusammen: Die Ethik des Bildes gibt sich nicht mit dem zufrieden, was Journalistinnen und Journalisten oder Fotokünstlerinnen und ‑künstler für ihre Pflicht halten, was Redaktionen, Verlage, Sender, Medienanstalten als richtig empfinden, was Konsumenten sehen wollen, ja, nicht einmal mit dem, was Juristinnen und Juristen erlauben oder verbieten. Die Ethik des Bildes hat all diese Interessenlagen zu berücksichtigen, aber zuvorderst die Interessen und Verletzlichkeiten der jeweils abgebildeten Personen in Schutz zu nehmen. Zugleich aber vertraut die Ethik des Bildes auch nicht einfach unbesehen auf die Befindlichkeiten der Betroffenen, da diese mitunter „freiwillig“, aber doch ethisch verantwortungslos mit ihren eigenen Bildern umgehen. Die Ethik des Bildes folgt damit einer anderen, einer eigenen Logik, die sich nicht ohne Weiteres mit der Logik des Journalismus, der Fotokunst, der Verlegerbranche, der sozialen Netzwerke oder auch der Konsumentinnen und Konsumenten deckt. Sie bewahrt vielmehr eine Art Überblick, und gerade deshalb ist ihre Expertise so unentbehrlich. Und sie besitzt ein Vetorecht – zumindest dann, wenn es um fundamentale Ansprüche der Betroffenen auf Schutz der jeweils eigenen Persönlichkeitssphäre und vor allem auch der Menschenwürde geht.