Bildethische Reflexionen zur Darstellung verstorbener Geflüchteter

Christian Schicha

Dr. Christian Schicha ist Professor für Medienethik am Institut für Theater- und Medienwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Die Veröffentlichung von Bildern verstorbener Prominenter hat in den letzten Jahren immer wieder zu kontroversen Debatten geführt. Dabei reicht das Spektrum der Bilder von Verkehrstoten wie Lady Diana über Hinrichtungsszenen wie bei Saddam Hussein bis hin zu aufgebahrten Persönlichkeiten wie Papst Johannes Paul II. Umstritten sind auch die gezeigten Bilder von Opfern, die bei Terroranschlägen, Folterungen, Amokläufen, in Kriegen oder bei Umweltkatastrophen ums Leben gekommen sind.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 1/2018 (Ausgabe 83), S. 38-41

Vollständiger Beitrag als:

Beim Blick auf die Spruchpraxis des Deutschen Presserates werden bei der Beurteilung der Darstellung des Todes primär die Ziffer 1 (Forderung nach Wahrheit, Achtung der Menschenwürde), Ziffer 8 (Schutz der Privatsphäre, Einhaltung der Persönlichkeitsrechte) und Ziffer 11 (Verbot einer unangemessenen sensationellen Darstellung) berücksichtigt. So heißt es z.B. in der Richtlinie 11.3 im Pressekodex zum Schwerpunkt „Unglücksfälle und Katastrophen“:

Die Berichterstattung über Unglücksfälle und Katastrophen findet ihre Grenze im Respekt vor dem Leid von Opfern und den Gefühlen von Angehörigen. Die vom Unglück Betroffenen dürfen grundsätzlich durch die Darstellung nicht ein zweites Mal zu Opfern werden.“ (Deutscher Presserat 2017)

Die visuelle Darstellung des Todes in den Medien gehört also zu den moralisch problematischsten Techniken journalistischer Tätigkeit. Grundsätzlich ist nach den Voraussetzungen zu fragen, die derartige Veröffentlichungen rechtfertigen können. Schließlich ist die Verletzung der Menschenwürde auch über den Tod hinaus möglich. Postmortale Ehrverletzungen und Entwürdigungen sind dabei relevant (vgl. Stapf 2010). Zudem sind die möglichen negativen Folgen zu antizipieren, die für die Betrachter derartiger Bilder entstehen können.

Gleichwohl haben Journalistinnen und Journalisten die Aufgabe, Missstände aufzuzeigen und zu dokumentieren und dadurch Aufklärung über gesellschaftlich relevante Todesfälle zu leisten. Insofern muss es gute Gründe geben, Bilder zu verbieten, da die Pressefreiheit und das Zensurverbot zu Recht ein hohes Gut in Demokratien vom Typ der Bundesrepublik Deutschland darstellen. Insofern ist zu diskutieren, ob das öffentliche Interesse die Publikation von Bildern Verstorbener rechtfertigen kann.
 

Zur Debatte um die Veröffentlichung des Bildes des Verstorbenen Aylan Kurdi

Seit vielen Jahren haben sich über das Mittelmeer in z.T. völlig überladenen und seeuntauglichen Booten Menschen in Not auf den Weg nach Europa gemacht. Dabei sind zahlreiche Menschen ums Leben gekommen, die jedoch anonym geblieben sind, da ihre Bilder und Namen bislang nicht publiziert wurden. Inzwischen wird aber auch der Tod als grausame Konsequenz einer gefährlichen Flucht in Bildern dokumentiert und diskutiert.

Das Foto des 3-jährigen syrischen Jungen Aylan Kurdi, der im September 2015 auf der Flucht ertrunken ist und dessen Leiche am Strand von Bodrum angespült wurde, hat die Welt erschüttert. Das Bild des leblosen Körpers, der mit blauer Jeans und rotem T-Shirt tot am Strand lag, avancierte zu einem Symbol der Katastrophen, die Menschen auf der Flucht widerfahren sind. Das Bild besitzt eine emotionale Identifikations- und Wirkungskraft und erzeugte öffentliche Anschlussdiskurse über das moralisch angemessene Verhalten gegenüber Geflüchteten in Not. Es gehört eindeutig zu den Bildern, „die ins Herz treffen“ (vgl. Herbst 2012), wenn verstanden wird, dass der leblose Körper des Kindes einen erfolglosen Fluchtversuch mit tödlichem Ausgang dokumentiert. Dieses Foto war am 2. September 2015 der weltweit am häufigsten verwendete Hashtag bei Twitter und löste eine „Empathiewelle“ (Hemmelmann/ Wegner 2016, S. 25) aus. Die „Bild-Zeitung“ räumte die gesamte letzte Seite für das Foto des Jungen frei. In dem abgedruckten Text zum Bild war auf schwarzem Untergrund zu lesen: „Bilder wie dieses sind schändlich alltäglich geworden. Wir ertragen sie nicht mehr, aber wir wollen, wir müssen sie zeigen, denn sie dokumentieren das historische Versagen unserer Zivilisation in dieser Flüchtlingskrise.“ (vgl. Becker 2015).

Es wurde kontrovers diskutiert, ob dieses Foto überhaupt hätte gezeigt werden dürfen. Der Journalist Heribert Prantl von der „Süddeutschen Zeitung“ vertrat in einem Interview die Auffassung, dass man „das tote Flüchtlingskind nicht instrumentalisieren“ dürfe, selbst, wenn dies „für einen guten Zweck“ (Baetz 2015) vorgesehen sei. Patricia Riekel (2015, S. 9) von der Illustrierten „Bunte“ plädierte dafür, das Bild zu zeigen, da es „zum Symbol einer humanitären Katastrophe [geworden ist], die sich direkt vor unseren Augen abspielt.“

Bei der Publikation des Bildes vom verstorbenen Aylan sind auch Verfremdungselemente vorgenommen worden, um eine Wiedererkennung des Jungen zu vermeiden. Sein Gesicht ist bei einigen Veröffentlichungen durch Pixel oder Unschärfe unkenntlich gemacht worden. Auf anderen Fotos ist es nicht zu erkennen, da eine Rückensicht abgebildet worden ist. Das Kind kann demzufolge nicht eindeutig identifiziert werden (vgl. Kamann/Posener 2015). Der „Kölner Stadtanzeiger“ hat sich dazu entschlossen, den Körper des Kindes aus dem Foto am Strand herauszuschneiden. Es sind nur noch die weißen Konturen des Jungen zu erkennen (vgl. Stenzel 2015).

Der Deutsche Presserat erhielt 19 Beschwerden gegen diverse Zeitungen, die das Foto unbearbeitet zeigten. Diese wurden durch ihn als unbegründet beurteilt, da es – so das Urteil der Medienselbstkontrollinstanz – keine unangemessen sensationelle und entwürdigende Darstellung des Verstorbenen gegeben habe. Der tote Flüchtlingsjunge am Strand sei ein Dokument der Zeitgeschichte, und das Foto stehe symbolisch für das Leid und die Gefahren, denen sich Flüchtlinge aussetzen. Die Dokumentation der schrecklichen Folgen von Kriegen, der Gefahren des Schlepperwesens und der Überfahrt nach Europa begründe ein öffentliches Interesse. Da das Gesicht des Kindes nicht zu erkennen sei, würden seine Persönlichkeitsrechte nicht verletzt (vgl. Deutscher Presserat 2015).
 

Zur Debatte um die Veröffentlichung des Bildes der Verstorbenen Flüchtlinge im Lkw

Ein weiteres Bild, das die fatalen Folgen von Flucht dokumentiert, war das Foto von 71 toten Menschen, die im August 2015 in einem Schleuser-Lkw auf einer österreichischen Autobahn erstickt waren (vgl. Hemmelmann/Wegner 2016). Es sind zwar keine Gesichter zu sehen, wohl aber die leblosen Körper der Verstorbenen. Auch diesmal diskutierten Medienethiker und Journalisten, ob dieses Grauen unverpixelt gezeigt werden darf. Tobias Eberwein (Universität Klagenfurt) formulierte seine Bedenken wie folgt: „Die Verwendung dieses Fotos ist ein dreister Verstoß gegen die berufsethischen Grundsätze des Journalismus. Die Wahrung der Menschenwürde wird im Pressekodex als eines der obersten Gebote des Journalismus hervorgehoben. Das gilt natürlich auch und ganz besonders bei der Berichterstattung über Opfer von Straftaten, weil diese sich häufig nicht mehr gegen die Berichterstattung wehren können.“ (o.V. 2015). Julian Reichelt („Bild-Zeitung“) trat hingegen für eine Veröffentlichung des Bildes ein und verwies auf die Debatte innerhalb der Redaktion, die eine verzögerte Publikation des Fotos nach intensiver Prüfung zur Folge hatte: „Wir haben das Foto nicht sofort online gebracht, sondern erst nach einem Tag der Diskussion zeitgleich in der gedruckten Zeitung und online veröffentlicht. Wir haben uns in der Chefredaktion die Meinung aller Leiter unserer Außenredaktionen eingeholt. Das Meinungsbild war absolut einheitlich und hat uns in unserer Einschätzung bestärkt: Solche Fotos zu veröffentlichen, die die menschliche Dimension politischer Entscheidungen dokumentieren, ist eine der Kernaufgaben von Journalismus.“ (o.V. 2015) Marlis Prinzing (Macromedia Hochschule, Köln) argumentierte aus einer pflichtethischen Perspektive gegen die Veröffentlichung von Leichenbildern. Aus einer folgenethischen Haltung heraus könnten derartige Bilder jedoch dazu beitragen, die „Öffentlichkeit auf[zu]rütteln“ (o.V. 2015). Lars Haider vom „Hamburger Abendblatt“ sah die Grausamkeit der Ereignisse auch ohne „Beweisfoto“ eindeutig belegt und beklagte ein voyeuristisches Verhalten im Rahmen der Bildveröffentlichung, das die Menschenwürde verletze. Michael Bröcker („Rheinische Post“) forderte eine „zurückhaltende ethisch-moralische Linie bei der Fotoauswahl“, um Opfer und Angehörige zu schützen (vgl. o.V. 2015).

Der Deutsche Presserat erhielt wegen der Veröffentlichung des Bildes der toten Flüchtlinge im Lkw 20 Beschwerden, die die Medienselbstkontrollinstanz als unbegründet erachtete, da es sich um eine Berichterstattung über ein schweres Verbrechen handele, an der ein öffentliches Interesse bestehe. Das Foto dokumentiere die schreckliche Realität, ohne die abgebildeten Menschen zu entwürdigen. Schließlich seien sie nicht identifizierbar. Der Beschwerdeausschuss hält das Foto zwar für furchtbar. Dennoch dürfe die Realität gezeigt werden, solange die visuelle Darstellung nicht unangemessen sensationell sei und die Opfer dadurch nicht erneut zu Opfern würden. Dies – so die Einschätzung des Presserates – sei hier nicht der Fall (vgl. Deutscher Presserat 2015).
 

Argumente für und gegen die Veröffentlichung von Bildern verstorbener Geflüchteter

Grundsätzlich haben Medien die Aufgabe, ihrer Chronistenpflicht nachzukommen, indem sie Öffentlichkeit herstellen und über relevante Ereignisse berichten. Dazu gehören auch visuelle Dokumente der Zeitgeschichte, die Missstände aufzeigen. Dies lässt sich gegebenenfalls dann legitimieren, wenn keine Identifikation der Opfer möglich ist. So können beispielsweise Gesichter gar nicht oder nur verpixelt gezeigt werden. Da derartige Schockbilder in der Regel ohnehin im Internet zu finden sind, kann für eine Veröffentlichung dahin gehend argumentiert werden, dass eine Ausblendung derartiger visueller Darstellungen als Zensur wahrgenommen werden kann. Schließlich – so die Hoffnung – kann die visuelle Veröffentlichung der grausamen Konsequenzen einer unmenschlichen Flüchtlingspolitik dazu beitragen, politisches Handeln zu verändern. Derartige Schlüsselbilder können Symbolkraft gewinnen und dazu beitragen, das Wegsehen zu vermeiden und die menschlichen Tragödien nicht auszublenden. Gegen die Veröffentlichung von Bildern verstorbener Geflüchteter spricht, dass die Menschenwürde der Toten berührt wird. Zudem leiden gegebenenfalls auch die Angehörigen der Opfer unter der visuellen Darstellung. Es ist aus der Perspektive des Jugendschutzes auch nicht abzusehen, ob derartige Schockbilder von Heranwachsenden angemessen verarbeitet werden können. Die visuelle Instrumentalisierung von Leid ist nicht zwingend erforderlich, um die tragischen Konsequenzen falschen politischen Handelns zu erklären. Dies ist auch in anderer Form durch sprachliche Aufklärung möglich. Schließlich besteht die Problematik, dass eine drastische Darstellung des Leidens weniger der Aufklärung als vielmehr dem Voyeurismus und der Geschäftemacherei dient.
 

Anforderungen an die Medienberichterstattung über Geflüchtete

Es lässt sich konstatieren, dass notwendige journalistische Einordnungen über die Zusammenhänge oft nicht erfolgen, sondern eher oberflächliche Berichte die Debatte bestimmen, die polarisieren, statt aufzuklären. Der bisweilen unsensible sprachliche Umgang mit dem Phänomen flüchtender Menschen, die als Naturkatastrophen klassifiziert werden, verstärkt diese Tendenz. Hinzu kommt die starke emotionale Wirkung von Schockbildern, die das Leiden oder den Tod flüchtender Menschen dokumentieren. Medien sollten gerade bei einem derart sensiblen und emotional sehr aufgeladenen Thema – wie der Berichterstattung über flüchtende Menschen – Regeln beachten, um die öffentliche Debatte nicht anzuheizen, sondern einzuordnen. Sie können Hintergründe von Flucht und Vertreibung aufzeigen, ihre Ursachen benennen, historische, politische, religiöse, ökonomische, militärische und kulturelle Zusammenhänge darstellen, wissenschaftliche Expertisen nutzen und darüber hinaus die unterschiedlichen Möglichkeiten der Informationsvermittlung in Form von Reportagen, Berichten, Kommentaren und Dossiers nutzen, um umfassend zu informieren. Selbstreflexion und Selbstkritik sollten ebenso zu den Maximen der Medienberichterstatter gehören, wie z.B. das Aufzeigen von ökonomischen und strukturellen Rahmenbedingungen. Zentral ist ein sensibler Umgang mit Bildern und Sprache, der dazu beitragen soll, konstruktiv zu argumentieren, statt populistische und dramatisierende Bedrohungseffekte zu forcieren. Vorhandenes Nichtwissen zu artikulieren und Distanz zu wahren, gehört ebenso zu den zentralen Aufgaben der Medienberichterstatter wie das Benennen eigener Fehler, um einen ehrlichen und konstruktiven Journalismus zu bewerkstelligen. Zentral ist aber gleichermaßen, eine eigene Haltung zur Menschlichkeit zu besitzen und diese im Rahmen der eigenen journalistischen Arbeit zu dokumentieren, indem auch das individuelle Schicksal von flüchtenden Menschen aufgezeigt und eingeordnet wird.
 

Literatur:

Baetz, B.: Medienethik. Über die Grenzen des Zumutbaren. Heribert Prantl im Gespräch mit Brigitte Baetz. In: Deutschlandfunk, 05.09.2015 (letzter Zugriff: 01.12.2017)
Becker, A.: Das traurigste Foto der Welt: #Kiyiya wird zum Symbolbild der Flüchtlingskrise. In: Meedia, 03.09.2015 (letzter Zugriff: 01.12.2017)
Deutscher Presserat: Totes Flüchtlingskind am Strand ein Dokument der Zeitgeschichte. Pressemitteilung, 03.12.2015 (letzter Zugriff: 01.12.2017)
Deutscher Presserat (Hrsg.): Publizistische Grundsätze (Pressekodex). Richtlinien für die publizistische Arbeit nach den Empfehlungen des Deutschen Presserates. Beschwerdeordnung. Berlin 2017 (letzter Zugriff: 01.12.2017)
Hemmelmann, P./Wegner, S.: Flüchtlingsdebatte im Spiegel von Medien und Parteien. In: Communicatio Socialis, 1/2016/49, S. 21‑38
Herbst, D. G.: Bilder, die ins Herz treffen. Pressefotos gestalten. PR-Bilder auswählen. Bremen 2012
Kamann, M./Posener, A.: Ein totes Kind. Soll man das Foto des im Mittelmeer ertrunkenen und in der Türkei an den Strand gespülten syrischen Jungen veröffentlichen?In: Die Welt, 04.09.2015, S. 3
o.V.: Medien-Ethiker kritisieren Schock-Foto aus Flüchtlings-LKW: „Dreister Verstoß gegen Grundsätze des Journalismus“.In: Meedia, 31.08.2015 (letzter Zugriff: 01.12.2017)
Riekel, P.: Ein Foto, das die Welt verändern kann. In: Bunte, 38/2015, 03.09.2015, S. 9
Stapf, I.: Tod und Sterben. In: C. Schicha/C. Brosda (Hrsg.): Handbuch Medienethik. Wiesbaden 2010, S. 391‑405
Stenzel, K.: Ertrunkenes Kleinkind am Strand von Bodrum. Fotos, die wir Ihnen nicht zeigen wollen. In: Kölner Stadt-Anzeiger, 03.09.2015 (letzter Zugriff: 01.12.2017)